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Was ist Jazz? Manchmal denke ich, eigentlich alles. Denn es gibt so viele Spielarten, -weisen, -formen...Etwa die des Saxophonisten John O’Gallagher, der sich für "Ancestral" (Whirlwind) neben dem Gitarristen Ben Monder gleich zwei Schlagzeug-Legenden einlud. Wir hören Andrew Cyrille (*1939) und Billy Hart (*1940) auf einer Platte, wie sie sich viele heute vor lauter Angst vor der JazzPolizei nicht mehr zu spielen trauen. Freie(ste) SaxophonTröterei zu stringenter dr/git-Begleitung – vor 30 Jahren konnte man sowas auch gut in der Knitting Factory hören (sofern dort nicht gerade New Klezmer Abend war). Der studierte Musikwissenschaftler O’Gallagher promovierte (nicht ohne Grund) über Coltrane und das hat auch in seiner eigenen Musik Spuren hinterlassen, diese aber zum Glück nicht akademisch werden lassen. Nein, das hier zu Hörende ist kraftvoll, unbekümmert, frei und so ideenreich wie nur was. 5
Etwas schwerer tue ich mich mit JAKOB DREYERs "Roots and Things" (Fresh Sound). Der Bassist bleibt für meinen Geschmack zu brav, zu dicht am Gewohnten, wagt zu wenig. Dabei ist die Vibraphonistin Sasha Berliner eine wirklich gute und auch Tivon Pennicott (ts) und drummer Kenn Salters leisten ordentliche Arbeit – aber doch fehlen hier ein wenig die Ecken und Kanten, die aus der Musik etwas Besonderes machen könnten. 3
Dass es auch im vermeintlichen Mainstream anders geht, beweist das Schweizer git-dr-b-Trio DUBOULE | TAVELLI | OESTER (samt Hornist Matthieu Michel als special guest) mit "Isobar" (Unit). Das ist schöner straighter Jazz mit RockAnteilen, der gelegentlich zwar auch eine gewissen GniedelFaktor aufweist, aber doch durch einen innovativen Umgang mit dem Vertrauten bezaubert. 4
CHRIS JANSSEN entwickelte sich nach frühkinderlicher Prägung durch ein Van Halen-Konzert und erste Bühnenerfahrung in der väterlichen Rock- und Oldieband zu einem respektablen JazzGitarristen, der auf "Traitement" (JazzSick) beweist, dass er viel von seinem Lehrer Phillip van Endert mitgenommen hat und Eric Clapton oder Dominic Miller zu recht als Vorbilder benennen darf. Seine 9 zarten, semi-akustischen Stücke zwischen SoftRock, Soul/Funk/Blues und JazzWalzer gewinnen durch die feine b-dr-Begleitung von Axel Weiss und Mathias Diesel an Tiefe. 4
Ganz anders bedient der Norweger IVAR GRYDELAND seine Gitarre(n) auf "Bøyning, brytning" (Sofa). Den Mann kennen wir sowohl als Solisten (sehr begeistert waren wir von seiner 2015er LP "Stop Freeze Wait Eat") wie auch als Mitglied bei Dans Les Arbres, Last Heat, Huntsville oder dem Skarbø Skulekorps. Hier nun versenkt er sich – beim 17minüzigen opener "Virkning av lysets bøyning" unter tätiger Mitwirkung der Perkussionistin Michaela Antalová – in die improvisierten KlangTiefen seiner E-Gitarre(n). Auch pedal steel und Portugiesische Gitarre (die streng genommen eine Cister ist – danke, Wikipedia!) kommen neben einigen elektronischen Zuarbeiten auf dieser zwar ruhigen, aber doch zum Experiment neigenden Platte zum Einsatz. Am besten finde ich das hier beinahe untypische, (scheinbar!) monoton zwitschernde "Virkning av lysets brytning" (dessen Titel dem von #1 zum Verwechseln ähnlich ist). 4
Mit ihren beeindruckenden Stimmen zaubern die Damen von IKI eine ebenso magische wie surreale Schönheit über die elektronischen Grundierungen von "Body" (Tila Tila). Pulsende loops zu transzendentem Flüstern ("Run"), strahlende FrauenChöre über unverständlichen, gleichwohl wunderschönen StimmVerschleifungen ("Remember") – das ist feinste a-capella-Kunst mal mit, mal (z.B. in den besonders schönen kurzen "Circuit"s) ohne jede Begleitung. 5
Dazu passen bestens die elektroakustischen Schichten, durch die sich die Französin TATIANA PARIS auf "t h a l l e"(Carton) gräbt, denn auch hier spielen die Möglichkeiten der (bearbeiteten) menschlichen Stimme im Verhältnis zu elektronisch oder mit einer präparierten Gitarre erzeugten Klängen die Hauptrolle. Minimalistisch, bei "t h a l l e I" meditativ drone-nd, manchmal auch lärmend, immer aber hoch konzentriert. 5
Gänzlich der Kraft des stehenden Klangs, der minimalen Verschiebungen, der Obertöne und der psychoakustischen Wirkung vertraut Sietse van Erve unter dem Projektnamen ORPHAX schon seit langem. Sein neues, komischerweise nur selbstverlegt bei Bandcamp erhältliches Werk (obschon van Erve doch das Feinschmeckerlabel Moving Furniture Records betreibt) heißt "Embraced Imperfections" und enthält zwei lange Stücke, die aus während des Corona-lockdowns via Youtube gestreamten LiveAktionen ("Both performances were improvised live with various synths, organs, and effects.") destilliert wurden und die uns einmal mehr mit der mikrotonalen Macht des scheinbar Statischen beeindrucken. 5
Eine "Klage" ist das von ANTON LAMBERT & THANOS POLYMENEAS LIONTIRIS eingespielte "tri-n-os" (Kohlhaas) ganz sicher, denn die Elektronik kreischt und raunt hier mit KontraBassTraktierungen um die Wette. Etymologisch gibt es wohl Verbindungen zwischen dem griechischen Wort "thrínos", dem Sanskrit-Begriff für "klingen", dem lateinischen für "weinen/klagen" und dem Altenglischen "drān" (="drone") – anhand dieses semantischen Felds kann man sich das klingende Werk eigentlich recht gut vorstellen. 4
TOTALEEE nennt sich ein italienisches "laptop trio", das auf der MC "d!p" (LOL Editions) auf sehr gelungene Weise LärmStrukturen und StimmSamples gegeneinander verschiebt. Sie selbst nennen das "non-idiomatic electroacoustic improvisations", als Referenz darf Merzbow genauso gelten wie bestimmte IRCAM-Arbeiten. Die vier zwischen 8 und 11 Minuten langen Aufnahmen dokumentieren übrigens LiveSets einer Tour, die die drei 2024 nach Irland und UK führte. 4
Der Name ALISTER SPENCE sagte mir bisher zwar genau nix, wird nun aber durch die CD "Within Without" (Room40) in Erinnerung bleiben. Der australische Jazzer erkundet hier das weite Feld der elektronischen Klangerzeugung – und das nicht mit einem GranularModulSonstwas-System, sondern mit einem guten alten Fender Rhodes. Wir hören aber nicht flott groovende SchweineOrgelein, sondern hochabstrakte, manchmal auch dezent sentimentale, immer aber ziemlich abgefahrene SoundExperimente zwischen Noise, Elektroakustik und ExperimentalAmbient. 4
Mit dem ENSEMBLE ARS NOVA nähern wir uns der "klassischen" Musik, hier zunächst aber noch in einer sehr experimentellen Ausprägung. Die Franzosen sind in ihrer Heimat in etwas das, was bei uns das Ensemble Modern ist und feiern mit der unter dem Dirigat des Ungarn Gregory Vajda entstandenen CD "Between Dusk and Dawn" (BMC) ihren 60. Geburtstag. Versammelt sind hier 5 Stücke von Komponisten unterschiedlicher Jahrgänge und Schulen - zunächst hören wir da ein Stück des 1987 in Südkorea geborenen, aber seit seinem Studium an der Weimarer "Hochschule für Musik Franz Liszt" in Deutschland lebenden Jongsung Oh: "A Horny Faun’s Rampage" ist natürlich ein ganz und gar hervorragender Stück-Titel, hinter dem man vielleicht eine Art DramaMetal erwarten würde. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein anspruchsvolles, gleichwohl "hörbares" Stück Neuer (E-) Musik mit spitzen Trompeten und dramatischen Pauken. Es folgt "Spring – Collegium21" von Édith Canat de Chizy (*1950 in Lyon) - ein Werk, das mit seinen Arpeggi von Harfen, scharfen Flöten und wilden Streichern tatsächlich etwas Strawinsky-esk(er) wirkt. Die Litauerin Justė Janulytė ist Jahrgang 1982, ihr "Clessidra" beginnt ruhig, beinahe elegisch und gewinnt dann Minute um Minute an Dynamik, ohne seine feinstoffliche KlangFarbigkeit wesentlich zu verändern – man darf an György Ligeti denken. Stück #4 stammt vom Dirigenten selbst: "Post-Apocalyptic Pastorale" ist noch so ein genialer MetalBand-StückTitel, die Musik dahinter entpuppt sich aber als neu-sinfonische ClusterKunst inkl. freundlichem ErdschlussBrummen. Den Abschluss dieser hörenswerten Platte bildet mit "Du Lyrisme de l’obscurité – Hommage à Marius Constant" ein Stück von Lisa Heute (*1991), der jüngsten der hier vertretenen Komponist(inn)en. Das dem rumänischen Messian-Schüler und Mitglied in Pierre Schaeffers "Groupe de Recherche de musique concrète" gewidmete Werk (hier stand übrigens nicht Vajda, sondern Clémence Le Gac am Pult) reiht sich klanglich nahtlos an das vorher Gehörte an, obschon es sich hier um ein reines BläserStück mit sehr konsequenter LinienFührung handelt. 5
Und weil sich (manches) Ohr und Hirn ja vielleicht auch mal "ausruhen" wollen, gibt es Dinge wie "De-Phazz presents Octaves!" (Phazz-a-delic New Format Recordings), eine CD mit Klavier-Re-Interpretationen von tracks der FutureLoungeJazzer, die diverse Stars und Sternchen (v.a.) der "Neoklassik"-Szene verantworten. In weichem Wohlklang greifen hier u.v.a. Bugge Wesseltoft, die schwedische WohlfühlPianistin Ana Rebekah und ihre britische GeistesSchwester Becky Ainge, aber auch der OstRocker und spätere DDR-PopElektroniker Rainer Oleak gefühlsduselig in die Tasten. Weil ja bald Weihnachten ist, unterdrücke ich meine unheilbare Abneigung gegen solcherlei tränenzieherische KleinKunst: 3.
Auf etwas(!) höherem Niveau bewegt sich bei im Grunde gleichem ästhetischem Ansatz der beliebte Cellist GAUTIER CAPUÇON mit seiner CD "Gaïa". Dass der Mann das klassische Cello-Repertoire beherrscht, hat er umfangreich unter Beweis gestellt; nun versucht er sich im pseudo-metaphysisch-eingängigen. Er bat "einschlägig vorbestrafte" Leute wie Max Richter, Olivia Belli, Nico Muhly und Ludovico Einaudi, aber auch JB Dunckel von Air, die New Yorkerin Missy Mazzoli oder den französischen DJ Michaël Canitrot und einige Filmmusikkomponisten (z.B. Joe Hisaishi und Armand Amar) um musikalische Verbeugungen vor der ErdUrMutter Gaïa, die er dann – mal solo, mal mit unterschiedlicher Begleitung und bei Ayanna Witter-Johnsons "Forever Home" und Canitrots "Never Say Never" gar mit schmalzreichem DamenGesang – als "Welturaufführungen" einspielte. Das Ergebnis entspricht meinen Erwartungen – entweder das alles ist wirklich nur banal oder ich bin zu überheblich und ein blasierter Nichtsversteher. Beides ist möglich. 3
Gehaltvoller und doch sehr entspannend scheint mir da PHILIPPE JAROUSSKYs Album "Gelosia!" (beide Erato/Warner), eine Sammlung italienischer (sekulärer) Kantaten, die der französische Countertenor bravourös interpretiert. Werke von Scarlatti, Vivaldi und Händel stehen neben denen ihrer weniger bekannten Zeitgenossen Nicola Parpora und Baldassare Galuppi (beide basieren auf demselben Text von Pietro Metastasio, dem auch der CD-Titel entlehnt ist und beides sind Weltersteinspielungen); das von Jaroussky dirigierte ENSEMBLE ARTASERSE spielt dazu angenehm zurückhaltend, beinahe kammermusikalisch. Eine große Freude, diese Musik und diese Spiel- und SangesKunst! 5
Fear No Jazz
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