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Herzlich willkommen an Bord zu unserer kleinen sommerlichen JazzReise, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beginnen unsere Rundfahrt mit einem Abstecher in die gleich hinter unserem sicheren Hafen gelegene ExperimentalBucht. Dort haben XENIA PESTOVA BENNETT und ANNEA LOCKWOOD ihre "The Piano Works" (Unsounds) verankert und indem erstere Arbeiten der letzteren interpretiert, versuchen die beiden als "Ear Walking Woman" aus (manchmal nur mittelspannendem) EchtzeitKratzen und -Schaben neue Erkenntnisse zu ziehen. "Red Mesa" und "RSCS" sind dann improvisiert anmutende, tatsächlich aber fein ausnotierte PianoStücke, denen mit "Ceci n’est pas un piano" klavierunterlegte Reflexionen über die Hände und Instrumente der Artistin folgen. Und zumindest in meiner digitalen Version sind die Stückbezeichnungen der beiden letzten Arbeiten ganz klar vertauscht! 4Unter gleicher Unsounds-Flagge segeln ANNE-JAMES CHATON, ANDY MOOR & YANNIS KYRIAKIDES, die auf ihrer digitalen Single "Handmade Volume 03: Tailles" zu enervierenden electronics und GitarrenSpitzen Zählen und Buchstabieren üben. 4
Auch wenn die neue KlangArbeit des Schweizer TonForschers ZIMOUN "Harmonium I-VI" (Room40) heißt, klingt dieses Download-Album nicht nur beim zweiten (der schlicht von I bis VI durchnummerierten) Stück(e)
schwer nach Akkordeon. Was ich im experimentellen Umfeld meistens gut finde. Eine gute Stunde erkunden wir hier gemeinsam mit dem Komponisten und Interpreten die SchwebungsFelder des mal zitternden, mal meditativ "drone"-enden Klangs. 5
Dazu passen dann recht gut die "Cartographies of Silence" (Line) von SIMONEL. Im Grunde sagt der Name des ersten Stücks schon alles: "Droned Tapeloops". Beeindruckend auch "Memory Of A Piano", was nämlich genau das ist – die ausgewaschene Erinnerung an einen KlavierKlang, der im dumpfen Rauschen (s)einen Weg durch die Störfrequenzen sucht. Überhaupt zeichnen die Titelbezeichnungen des Mexikaners die besten Bilder: "Frozen Lake" – ihr wisst sofort, wie das in diesem Zusammenhang klingen könnte. Natürlich ist das nicht wirklich gute Unterhaltung, aber eine perfekte MeditationsKulisse. Ganz hervorragende tape-experiment-dark-ambient-drone-lofi-art! 5
Ohne drone, aber mit ebenso hohem Experimental-Anteil kommt das zweite Album der italienischen Kapelle SHE’S ANALOG. "No Longer, Not Yet" (Carton/Torto Editions) beginnt mit versonnen dahin improvisierten PerkussionElementen zu verwischten Gitarren- und SynthClustern, gewinnt dann an (Song)Struktur, die sich im "Danse Macabre" aber schon wieder in ein nervöses elektronisches GrundZittern auflöst. Das ist PostRock genauso wie Jazz, ElektroExperiment genauso wie Ambient – das ist einmal mehr der Beweis für die Sinnlosigkeit von Schubladen. 4
Wir haben ein wenig unsere SchiffahrtsMetapher aus dem Blick verloren, deshalb bemühen wir für das neue Werk vom CASPAR BRÖTZMANN MASSAKER (das vielleicht einen Vorgeschmack auf ein noch einzuspielendes "comeback" der Band des FeedbackMeisters ist, das letzte reguläre Album war doch 1995 "Home", oder?) gleich mal das Bild vom Auge des Orkans. Denn "It's A Love Song" (Exile on Mainstream/Corbett vs. Dempsey) entfacht in den hier zu hörenden zwei recht unterschiedlichen Live-Fassungen von "All Is Violence" eine enorme Kraft, die sich nicht nur aus dem brachialen GitarrenKrach (wie man ihn von den diversen Brötzmann-Gastauftritten von FM Einheit bis MoE (wie herrlich war deren gemeinsamer Auftritt vor 1 ½ Jahren im Berliner Schokoladen!) kennt) speist, sondern auch aus einer beinahe physisch spürbaren höheren Ordnung, einer nur emotional zugänglichen Sphäre, in der Lärm zu Schönheit und Verzerrung zu etwas sehr Filigranem wird. Beim ersten Hören hat mich das so gepackt, dass ich die exzellente Begleitung durch Eduardo Delgado Lopez (b) und Saskia von Klitzing (dr) kaum wahrgenommen habe. 5
Jetzt wird das Ruder hart herumgerissen, auch wenn weiter ein GitarrenWind die Segel bläht. Der Norweger HÅVARD VOLDEN, den wir nicht nur von seinen Beiträgen zu Platten von Muddersten oder Moon Relay schätzen, sondern der an der Seite seiner Partnerin Jenny Hval zuletzt auch live sehr überzeugte, geht es auf "Small Lives" (Sauajazz) nämlich wesentlich ruhiger an. Der opener "Seedling" ist eine elegische GitarrenLandschaft über einem sehr schön bewegtem Bass (Adrian Myhr – bedarf hier sicher keiner Vorstellung) und etwas SchlagzeugZittern (Jan Martin Gismervik – u.a. Monkey Plot, Propan, Oker), die erst gegen Ende der 15minütigen Spielzeit in allen Teilen etwas wilder wird. Die sensiblen Synth/Sampler-Hintergründe oder -Einschübe stammen dabei vom Litauer Guostė Tamulynaitė. Die folgenden 5 Stücke sind nicht mehr ganz so lang, bieten aber allesamt prächtige, ruhige, aber doch sehr aufregende und immer wieder auch fordernde Unterhaltung, die hier und da sogar ins Songhafte spielt. Die bekanntlich sehr hoch liegende norwegische QualitätsLatte wird hier jedenfalls ganz locker übersprungen. 5
Anders empfinde zumindest ich das beim nächsten Fang aus den norwegischen Fjorden. "Morning" (Hubro) von BEIGGJA (Kika Sprangers – sax, Kjetil Mulelid – p, Mats Eilertsen – b, Per Oddvar Johansen – dr) beginnt (jedenfalls für Hubro-Verhältnisse!) recht belanglos mit cremigen Saxophon-Melodien über klassischer JazzBegleitung. Und dann: bleibt es so. Solide - aber Leuten, die (wie ich) bei Hubro eigentlich blind zugreifen würden, sei hier vielleicht doch ein Probehören angeraten. 3
Dafür können wir den leider nur als DL verfügbaren Soundtrack "Sobre Las Olas" (MNJ) von ASLE KARSTAD und den TRONDHEIM VOICES uneingeschränkt empfehlen. Den Gesang des Chorprojekts T.V. haben wir an dieser Stelle schon mehrfach (und zumeist erfolglos) versucht, in Worte zu fassen, dabei auf Hülsen wie "außerweltlich und getragen", "dekonstruiert semi-liturgisch", "entrückt" und "sphärisch" zurückgegriffen und sogar eine "geisterhafte Version der ohnehin schon reichlich "spooky" daherkommenden Miranda Sex Garden" darin erkennen wollen. Das alles gilt auch für die hier konservierte komplett improvisierte Filmmusik und greift doch viel zu kurz. Eine unfassbar gute Essenz des Wunders der menschlichen (Frauen)Stimme inkl. ein wenig "electronic processing with Maccatrol", einem speziell für T.V. entwickelten "unique effect controller", der es den Sängerinnen erlaubt, ihre Stimmen unmittelbar während der Darbietung mit Effekten und loops anzureichern. Wirklich grandios! 5
Einen völlig anderen, aber ebenfalls sehr packenden Zugang zur vokalen Kunst pflegt seit Jahr und Tag der Neo-Dadaist JOKE LANZ – Seefahrer könnten in dem gleichermaßen Noise, WortVerdrehungen und KlangPerformances liebenden Schweizer eine Art sonischen Klabautermann sehen, Plattensammler vielleicht mal wieder eine der alten Schimpfluch- oder Sudden Infant-LPs rauskramen. Auf "Zungsang" (Nuit et Brouillard/Force Majeure) singt, spricht, raunt, knurrt, schreit er des Öfteren in solchen (Zungen), dazu erklingen wilde Orgien aus Samples, field-recordings, loops, (gern ungewöhnlich bedienten) Instrumenten – hört nur mal in die knapp 2 Minuten von "Tschimberasso Südwand" oder das ebenso kurze "Urial von Gobizorn". Inspiriert von und gewidmet ist das verwirrend großartige Werk (das hier als um 4 Stücke erweiterte re-issue eines Tapes von 2021 kommt) dem Schweizer Art Brut-Künstler Adolf Wölfli (1864–1930), gleichsam als "halluzinierende Reise durch ein dunkles und surreales Universum". 5
Geistesverwandt, allerdings mehr vom PunkJazz denn vom dadaistischen Forschen kommend, kennen wir seit Jahrzehnten Ted Miltons BLURT, deren neue Maxi "The Mecanno Giraffe" (All City) nach dem kurzen, mit Miltons PunkSax(TM)-Tröten über StakkatoRiffs und einem stoischen b-dr-Fundament ganz und gar Band-typischen Titelsong auf der Rückseite in ein fast 20minütiges Rezitieren übergeht. "Of course I can walk on water. I can bike too." Solche Kostproben in eine Vielzahl von Poemen gegossenen britischen Humors (oder britischer Exzentrik) trägt Milton ausdauernd vor, endend mit der schönen Erkenntnis: "Time flies. And then it crushes." 3
Zack, wieder segeln wir eine Wende: Denn die "Paintings Of An Exhibition" (JazzSick) vom SILENT EXPLOSION ORCHESTRA erinnern mich an den sanften BigBand-Sound, mit dem das Tim-Isfort-Orchester vor fast 30 Jahren den Gesang u.a. von Tom Liwa und Blixa Bargeld begleitete. Und natürlich muss man auch an Modest Mussorgski denken, womit wir der tatsächlichen Inspirationsquelle schon ziemlich nahe sind, denn die bilden auch hier Gemälde: S.E.O.Chef Kevin Naßhan hat dazu Bilder von Kandinsky, Klimt, Picasso, Van Gogh, Monet und Gris ausgewählt und gemeinsam mit seinem vielköpfigen Ensemble in sanften Jazz übersetzt. Dazwischen streut er Interpretationen der "Promenaden" aus Mussorgskis berühmtem Klavierzyklus. Mal etwas weihnachtlich anmutend ("Promenade IV"), mal funky - allerdings in SloMo ("Backgommon"), zumeist aber als ganz klassischer, deswegen aber noch längst nicht langweiliger BigBandJazz. 4
Bleiben wir noch ein wenig in Klassik-inspirierten Gewässern: ANNIE BLOCH und EMILY WITTBRODT haben sich für ihr "The Mendelssohn-Project" (stssts) intensiv mit Felix Mendelssohn Bartholdys "Präludium und Fuge in c-Moll op. 37 Nr. 1" auseinandergesetzt. Aufgenommen in der Liebfrauenkirche zu Hamm und unterstützt vom Erzbistum Paderborn hören wir zunächst das Präludium quasi "im Original", bevor sich die 7 folgenden Orgel-Cello-Variationen zunehmend vom romantischen Ursprung zu eher frei-experimentellen Ableitungen hin bewegen. 4
Der famose Bariton ANDRÈ SCHUEN hat auch ein neues Album am Start. Auf "Mozart"(Deutsche Grammophon) feiert er mit dem Mozarteumorchester Salzburg unter Roberto González-Monjas und Avi Avital als Gast an der Mandoline sowie natürlich seinem langjährigen Klavier-Partner Daniel Heide die Musik des Salzburger Wunderkinds. Neben den beinahe obligatorischen Arien aus dem Figaro, der Zauberflöte und Don Giovanni (z.T. im Duett mit der Sopranistin Nikola Hillebrad) kommen auch seltener gehörte Mozart-Werke zu Gehör. Darunter Lieder wie "Abendempfindung", "Das Traumbild" oder die freimaurerische "Kleine deutsche Kantate" "Die ihr des unermesslichen Weltalls Schöpfer ehrt" – allesamt auf höchstem interpretatorischen und stimmlichen Niveau. Hier die vermeintlich "dankbaren" Operarien, dort das "anstrengende" Lied – Schuen meistert mit seinem geschmeidigen Bariton beides mit gleicher Leichtig- und Ernsthaftigkeit. 5
Ganz und gar nicht klassisch verorten wir das "Tiefblechensemble" ZINC & COPPER. Oder doch? Denn wie sich auf der digitalen Kompilation "Well Tuned Brass" (Autopilot) nachhören lässt, bestehen bei der getragenen Tuba-Horn-Posaunen-Kunst von Robin Hayward, Elena Kakaliagou und Hilary Jeffery trotz deren tiefer Verwurzelung in Berlins (mikrotonaler) EchtzeitSzene einige Parallelen. Die knappe halbe Stunde Forschungsarbeit in Sachen KlangFarbenStimmung verleitet zwar (auch) zum träumenden Dahinschweben, gibt aber auch immer wieder Anlass zum konzentrierten Eintauchen in dieses Meer aus Klang. 5
Mit "Proof of Life" (Rugged Ram) von OLA ONABULÉ und NICOLAS MEIER erreichen wir zum Schluss noch einen "richtigen" JazzHafen. Ich bin nicht sicher, ob der sehr plötzliche Start dieser CD wirklich intendiert ist oder ob nicht doch beim Mastern jemand irrtümlich die ersten 2 Sekunden weggeschnitten hat – wie auch immer: das Falsett von Ola Onabulé nimmt sofort gefangen. Nicht wegen vordergründiger Schönheit, sondern dank enormer Intensität. Später wechselt der nigerianische SangesKünstler auch mal in "normale" Stimmlagen, ohne dabei an Ausdruckskraft zu verlieren. Dazu spielen der Gitarrist Nicolas Meier (den viele sicher von der Jeff Beck Group kennen werden), Jakub Cywinski (b) und Chris Nickolls (dr)/Will Fry (perc) ein sehr smoothes, zwischen lyrischer Funkyness und straightem MainstreamJazz siedelndes Set mit einigen afrikanischen Zumischungen (besonders deutlich z.B. bei "Proof Of Life" oder "Funmilayo") – weit mehr als "Two Scoops"! 4
Damit endet unsere Juli-Rundfahrt – bitte beachten Sie die leicht schwankende Gangway, bleiben Sie gesund und beehren Sie uns bald wieder!
Fear No Jazz
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