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Im Herbst startet unser genetisches Programm die Routine "Vorbereitung Winterruhe", ob wir das wollen oder nicht. Weshalb wir mit eher ruhigen Tönen beginnen möchten:Als ich euch an dieser Stelle vor genau einem Jahr die ersten beiden Folgen vorstellen durfte, fand ich die romantische Klaviermusik des Finnen HEIKKI HALLANORO noch etwas banal – vielleicht bin bin jetzt gnädiger gestimmt oder aber die "Soul Songs Vol. 3" (Mons) sind tatsächlich besser. Jedenfalls gefallen mir die 9 neuen PianoSolo-Stücke ganz gut. Impressionistische, mit leichter, aber doch melancholischer Hand in ein nordisches Aquarell hineingetupfte Klavierwolken – das Info spricht von "Stille, gekleidet in Herbst-Purpur und -Gold" und immer wieder erinnert mich das hier und da an Virginia Astley. 4
Das TRIOSENCE schließt hier an, seine "Stories Of Life" (Masterworks/Sony) transportieren sanfte, klassisch von Schlagzeug und einem (gern mal gestrichenen) Kontrabass begleitete Klaviermusik zwischen Jazz und Kaffeehaus: einfühlsam, seelenschmeichelnd und definit Herbsttag-kompatibel. 4
Die fabelhaften THE NECKS haben auch was Neues am Start – für ihre 3CD "Disquiet" (Northern Spy) sollte man sich allerdings wirklich Zeit nehmen. Denn Tony Buck (dr), Chris Abrahams (p/keys) und Lloyd Swanton (b) entfalten hier über reichlich 3 Stunden eine nahezu perfekte TraumKlangLandschaft. Nach einer Stunde "Rapid Eye Movement" sind wir nicht etwa im Tiefschlaf, sondern in jenem somnambulen Dämmerzustand, der die Sinne benebelt und zugleich schärft. Das "Ghost Net" gibt sich dann 5 Viertelstunden lang post-kraut-rockig repetitiv und windet sich stringent durch die Trance, bevor dann zwei jeweils etwa halbstündige tracks die Sache abrunden: "Causeway" mit einigen beinahe wilden HammondOrgeleien und "Warm Running Sunlight" wieder mit höchst solidem AmbientJazz. 5
Mit dem TRET TRIO nähern wir uns "richtigem" Jazz. Hier hören wir ein Wurlitzer E-Piano (Tobias Weindorf), Philipp van Endert an seiner Gitarre und das weiche Saxophonspiel des Briten Rob Hall. "Crow Jam" (FMR) schmeichelt mit durchweg sehr smoothen Klängen, einige davon live aufgenommen: zarte Fender Rhodes zu nicht minder zarten SaxLinien und der ebenso, nun ja, zarten Gitarre. Mit "Heligan's Hooligan" wird’s dann sogar leicht Be-Bop-ig. 4
Auch bei MATTI KLEINs "Soul Trio Bouncin' In Bubbleverse" (Shuffle Shack) hören wir eine schöne Wurlitzer. Dazu einen fetten Rhodes-Bass und Sax/Bassklarinette – fertig ist ein sauber groovendes Monster, das sich von Jazz genauso gern ernährt wie von Soul und Funk. Besonders interessant sind die jeweils unmittelbar anschließenden, "Echo" genannten NeuBetrachtungen des gehörten Stücks, in denen jenes aus anderem Blickwinkel, mit anderem Schwerpunkt oder auch in anderer Stimmung intoniert wird. 4
Der kanadische Bassist ZACK LOBER hat sich mit seinem NO FILL3R-Quartett tief durch Jazz-Geschichte und -Theorie gegraben, die musikalischen Bezüge der einzelnen Stücke auf "So We Could Live" (Zennez) sind zu zahlreich, um sie hier anzuführen. Vom gerade schon gehörten Be-Bop-Erbe über freiere Passagen und Suzan Venemans herrliche Trompetenlinien (z.B. in "The Loose End") hin zu einer Verschränkung aus einem Lober-BassSolo und dem guten alten "Besame Mucho"-Thema. Und im beinahe getragenen Titelstück zeigt sich, dass diese recht gut eingespielte Truppe es sowohl (relativ) entspannt wie auch richtig spannend angehen lassen kann. 4
Bei der Legende Blue Note erscheint "Nueva Timba" (UMG/Blue Note), das neue Album des auf Kuba geborenen Pianisten HAROLD LÓPEZ-NUSSA. Mit p-dr-b und Harmonika wird hier eine Art FutureLatinJazz zelebriert. In klassisch dahin Rumba-enden Stücken verstecken sich feine Verfremdungen, SoundEffekte und andere Spielereien - "Bonito y Sabroso" ist z.B. so eine Nummer. Auch das von einem flinken Piano Rachmaninowschen Schwierigkeitsgrads geprägte "Gitanerias" spielt mit modern(istisch)en Akzentverschiebung im begleitenden Schlagzeug. Sehr schön. 5
Das OLESCH I KONERTZ DUO verbindet auf "New Places" (Nwog) Vibraphon und Posaune. Liest sich erstmal schräg, klingt aber ganz großartig. Wundervolle Posaunen Soli, tolle Xylophon-Linien und bei aller instrumentalen (Selbst)Beschränkung kein bisschen Kargheit. 4
Von ganz klein zu ganz groß (zumindest im Hinblick auf die Besetzung): Das MAGNETIC GHOST ORCHESTRA um den in Leipzig lebenden Gitarristen Moritz Sembritzki vertont auf "Holding on to Wonder" (FITC) eine ÜberIdee, die darauf basiert, dass Bee, eine ältere Malerin (der die exaltierte Sopranistin Aylin Winzenburg ihre Stimme leiht) und die (eher junge) Schriftstellerin Pen (im warmen Alt gesungen von Meryem Kiliç) einen (fiktiven) Briefwechsel pflegen. Mit Chor(Jazz)Gesang, SprechStellen und einem wilden MusikMix - denn im Prinzip besteht das MGO aus einigen leicht nervösen Rockern plus BigBand-gestählten Bläsern, dem DOTA-Trommler Janis Görlich und den erwähnten, wirklich famosen Sängerinnen. AvantJazzMusical oder wie soll man dazu sagen? 4
Der Handanger-Fiedler KENNETH LIEN spielt gemeinsam mit Jørgen Skjulstad aka. DJ Sissyfus aka. CENTER OF THE UNIVERSE einfach mal "Norwegian Electronic Folk Music" (Heilo). Die Kombination aus traditionell erzeugten Klängen mit solchen aus der SchaltkreisKiste funktioniert ganz prächtig: beats finden zu folk-tunes finden zu einer Einheit. Das ist Tradition für den Club (der offenen Ohren). 4
Ganz woanders und noch viel weiter zurück in der Zeit ist ein Mann unterwegs, der sich MICHAËL|LE GRÉBIL LIBERG nennt und auf "L’Ymage" (Sub Rosa/Thödol) tatsächlich eine avantgardistische Form, Stücke des großen (Spät)MittelalterMeisters Guillaume de Machault zu spielen, ausprobiert. Dabei kommen Seltenheiten wie eine "Cetera oscura"-Laute (noch nie gehört, scheint so eine Art Cister zu sein) oder ein "Piccolo cello" samt Violine zum Einsatz, dazu langgezogene Gesangslinien voller vertrackter harmonischer Setzungen und bei "Oyseaulx d’Avryl" dann Halleffekte, StimmExperimente und Vogelgezwitscher. Verwirrend spannend und nur als 2LP. 4
250 Jahre nach de Machault wirkte John Dowland in London als Lautenspieler und Komponist, gerade sein "Flow my Tears" wirkt bis heute (auch in der PopKultur) nach. Eben dieses hören wir auf "Stabat Mater" (Fresh Ribes), einer CD des italienischen Projekts ELECTRIO neben einem Madrigal von Dowlands Zeitgenossen Claudio Monteverdi und ähnlich barock angelegten Kompositionen des in Belgien lebenden Italieners Marco Rosano (der sein "Stabat Mater" für den Countertenor Andreas Scholl geschrieben hat) und vom Electrio-Gitarristen Franceso Rista. Auf dem fragilen, akustisch-elektronisch angerichteten KlangBett aus Gitarre und electronics kann sich der vielleicht nicht wirklich große, aber doch angenehme Sopran der Isländerin Sandra Lind Þorsteinsdóttir voll entfalten. Gerade der scheinbare Widerspruch zwischen barocker Opulenz und der eher kargen (und damit natürlich bestens zum "Stabat Mater"-Motiv passenden) musikalischen Umsetzung ohne Kitsch oder Effekthascherei bezaubert hier sehr. 4
Wir haben uns somit ganz vorsichtig an die Grenzen des weiten Unbekannten, an das Land "Experiment" vorgearbeitet. Die übertritt zuerst und vielleicht sogar noch etwas vorsichtig die ANNA HÖGBERG ATTACK. "Ensamseglaren" (Fönstret) beginnt mit Knacken, Schmatzen und jaulendem Gebläse, dann tritt ein extrem gezerrtes GitarrenRiff hinzu, später auch "klassisches" FreeSaxTröten. Aber auch nicht zu "klassisch", weil durch besagte StromGitarre(n) und darauf reagierende Effekte sehr schön gespiegelt. Nach 11 Minuten klärt sich dieser herrliche Nebel kurz, es ertönen einige Trompeten- und PosaunenKlagen zu feinem HintergrundKnarzen, dann verknoten sich BlasRohre und BassSaiten... es ist einfach zu schön! Auf der LP-Rückseite beginnt zu einem klimpernden Klavier eine Säge zu singen und irgendwie wird daraus eine schwer schwingende Art MehrStimmenGroove mit TrompetenSolo, der sich (natürlich) wieder zu angenehm ekstatischem Krach steigert, bevor dann zum Schluß doch alle in höchst konzentrierter und stimmiger Weise aneinander vorbei und umeinander herum spielen. 5
Der "Input (The Sofia Versions)" von TechnoHead STEFAN GOLDMANN besteht zunächst darin, sich ein elektronisches MusikStück auszudenken und aufzunehmen. Das kriegen dann aber nur ausgewählte Komponisten zu Gehör, die daraus eine Ensemble-Instrumentierung extrahieren (sozusagen Remix rückwärts). Das Ergebnis fällt naturgemäß recht unterschiedlich aus, die hier zu hörenden "Sofia Versions" von Daniel Chernov, Adrian Pavlov und Lukas Tobiassen entstanden für das 180°-Festival in der bulgarischen Hauptstadt (aber wohl für die 2016er Ausgabe). Das ENSEMBLE 180° spielt das Material souverän - zunächst als beinahe etwas beliebig zeitgenössisches, spätestens aber mit dem Goldmann-Stück "Études Spectrales" als hochspannende ElektroAkustikEtude voller knisterndem Pfeifen und Stampfen, dröhnendem Zwitschern und schabendem Hauchen – großartig! 5
Unfassbar auch, was man mit einer Stimme anstellen kann. Jedenfalls, wenn man sich wie Isabelle Duthoit in eine Welt aus Schreien, Zwitschern, Knurren, Raunen, Zischen und Röcheln fallen lässt. Gemeinsam mit Anthony Laguerre (dessen "Myotis"-Projekt, v.a. in der Version mit Les Percussions de Strasbourg, wir schon sehr mochten) firmiert sie nun als IKI (was zwar eine gewisse Verwechslungsgefahr mit dem ebenfalls großartigen IKI-Vokalensemble aus Kopenhagen birgt, aber egal) und entfesselt zur virtuosen Schlagzeugbedienung auf "IKI" (Sérotine) einen Malstrom von StimmKlang – alles pendelt zwischen Wahn und Zärtlichkeit, zwischen völliger Hingabe und kompletter Abgedrehtheit. Wirklich beeindruckend und tatsächlich auch ein intensives Hörerlebnis: "In this wordless drama, there’s nothing to understand, everything to feel and grasp." 5
Zum Schluss habe ich noch einen JazzSchatz für euch, der vielleicht weniger avantgardistisch denn experimentierfreudig ist. Der Bassist und Bandleader SEBASTIAN GRAMSS hat sich der Helix verschrieben. Darunter versteht er – und ich muss das aus dem Info zitieren – ein "Phänomen, in dem sich musikalische Parameter wie Rhythmus, Tempo, Melodie und Harmonie konstant verschieben, beschleunigen oder verlangsamen", auch die endlosen Treppen eines MC Escher finden in diesem Zusammenhang Erwähnung. Klingt sehr verkopft und theoretisch, zeitigt aber ganz wundervolle KlangErgebnisse. Denn Gramms hat das Prinzip mit seinen aktuellen Formationen METEORS und STATES OF PLAY durchgearbeitet und auf jeweils einer CD konserviert. "Helix / Risset Protocol I" entstand mit den Meteors, seiner aktuellen "Working Band" und dort verweht mit "Last Hell" der Meteor im elektronischen Wind. Bei "Helix / Risset Protocol II" unterstützte der Deutschlandfunk und hier erwähnen wir mal exemplarisch die "Spirale 12", wo sich in den Bläsern vielleicht sogar mal ganz kurz das Star-Wars-Thema zwischen Harfen und Xylophon schleicht. "Helix / Risset Protocol III" (alle rent a dog) endlich versammelt Live- und Studioaufnahmen mit diversen Formationen und Gästen – wir hören u.a. die Gramms-Projekte BassMasse (hier V5), Slowfox (V4), Orbit, Coil (nein, nicht DIE Coil - John Balance und Peter Christopherson sind ja leider schon lange tot), Swift und Logos Robotic Orchestra, Fred Frith bedient hier und da (s)eine verrückte Gitarre – hier nennen wir mal exemplarisch "Electro 1" als durchdrehende Computermusik und das 7minütige, zu Herzen gehende KontrabassSolo "Lullaby". Ein wildes Sammelsurium hochkomplexer Musik zwischen Jazz, Neuer Avantgarde und allem andern, das durch die informativ gestalteten Digipacks (hier kann man sich auch weiter in die Helix-Theorie hineinwühlen) eine ganz besondere Dimension gewinnt. Im Herbst ist ja manchmal Zeit und Ruhe, sich sowas einen ganzen Abend lang konzentriert reinzuziehen. 5/5/5
Fear No Jazz
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