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JAZZJANZKURZ

V.A.

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Ein neuer Monat Mai mit einigem an Interessanten (und auch ein wenig weniger Interessantem) aus dem weiten Feld der Freien Musik (ein Feld, das wir auch dieses Mal gewohnt weiträumig und großzügig abstecken):
CONEXÃO BERLIN z.B. ist eine Truppe (halb)akademischer Musikanten aus – na klar!: Berlin. Die spielen auf "Vagabundo" (Eden River) Klavier-getriebenen Gute-Laune-Unterhaltungs-Jazz mit etwas südamerikanischem Flavour. Richtig aufregend ist aber anders, selbst wenn die zarten Bläser das Ganze durchaus verschönern. 3
Da finde ich das Leipziger Olga Reznichenko Trio schon spannender. Zwar ist deren von recht ungeraden Metren geprägter KlavierTrioJazz nichts, was man nicht schon gehört hätte, dennoch ist diese "Rhythm Dissection" (Traumton) sehr unterhaltsam. Z.B. wenn das "Polyphobic Impromptu" durch ein sehr schönes (und wunderbar klar und direkt aufgenommenes) KontrabassSolo eröffnet wird und sich dann 6 Minuten lang durch weitere (gar nicht) polyphobische SemiSoli entwickeln darf. Schick auch das auf einem "Trampelpfad" (am Ende sogar recht flott) dahin stapfende Klavier. Und auf einen Titel wie "A Ballad For A Cowboy Who Is Yet To Find Out About Fear" muss man auch erst mal kommen...4
Bleiben wir freundlich und gemütlich, ohne bräsig oder anbiedernd zu sein. Das BYGGESETT ORCHESTRA um den Tastenmann Georg Sehrbrock aus Mönchengladbach bedient uns da mit seiner neuen, offenbar wieder selbstverlegten CD "Poems About Everything" bestens. Aus den "nebligen Niederungen des Niederrheins" (ich muss(!) diese Passage aus dem Info einfach zitieren) krabbelt ein merkwürdig groovender, dabei PostRock, PostJazz und vielleicht sogar eine elektrifizierte Form von PostMinimal durcheinander wirbelndes Etwas, das zwischen ambienten Improvisationen und rhythmisierten RockPattern eine feine Balance auspendelt. Die vier durch einen kurzen "Choral" getrennten, jeweils um die 12 Minuten langen Stücke spielen mit Trance wie mit Ekstase, lassen gern mal träumerische Trompetenklänge (die spielt Markus Türk, den wir z.B. von "The Dorf" kennen und schätzen) über einem knisterndes Beat schwelgen und finden bei aller lässigen Freiheit doch stets wieder zum Ausgangspunkt zurück. Wo eben noch ein fettes FunkBrett knallte, schweben jetzt schon versonnene Synthies – kunterbunt, aber immer prima. 5
MAX CLOUTH mag’s (auch) verträumt. "Entelecheia" (L+R) beginnt etwas esoterisch mit bedeutungsvollen Keyboards und einer Shakuhachi-Flöte. Was aber in ein waberndes Nichts abgleiten könnte, wird nach 3 Minuten in "Bernstein" fixiert. Hier beginnt ein konzentrierter Bass, die Dinge zu ordnen, Marja Buchards warm wispernde Stimme passt ganz wunderbar in das KlangSetting und auch ihr Vibraphon fügt sich bestens ein (außerdem spielt die Dame noch Wurlitzer und die persische Zither-Verwandte Santur). Über allem räkelt sich Clouths Gitarre (für die Nerds: eine Doppelhals-Sonderanfertigung von Philipp Neumann aus Antwerpen, die Gitarre, Sitar und Oud in einem Instrument zu vereinen sucht), oft Santana-esk gedehnt. Die textlich recht aufgeladenen Stücke (gern ist von "Mother Nature", "Mother Earth" die Rede) gehen zumeist nahtlos ineinander über, gern mit bedeutungsvollem PerkussionKlingeln (oder sind das die in der Besetzungsliste aufgeführten "Microtonal Metal Plates"?) – aber: ist das Jazz? Ist das Rock? Ist das Pop? Ich hab keinen Schimmer, wie man diese Musik benennen sollte und das ist sehr gut so. 4
Den leichten japanischen Hauch, den "Entelecheia" (auch) atmet, könnten wir mit der ethnographisch wertvollen (best of)Kollektion "Ukouk - Round Singing Voices of the Ainu 2012-2024" (Pingipung) vertiefen. Das AinuFrauenEnsemble MAREWREW hat sich intensiv mit den traditionellen, oft mit konkreten LebensAnlässen (von KranichTanz und RuderLied bis "Sake Ritual" und "Wedding Song") verbundenen Gesängen der indigenen Bevölkerung Ezo/Hokkaidōs befasst und daraus eine zunächst sehr fremd wirkende, mit etwas Ausdauer aber wirkliche Kraft entfaltende Musik gemacht. Bis auf ein wenig Gong, Rasseln und Klopfen durchweg a-capella zelebrierte TonKunst zwischen alltäglichem Spaß und meditativer Trance. 5
Wir bleiben in Japan, wechseln aber abrupt das Genre. Obwohl: auch Steve Reich hat sich gründlich mit TrancePrinzipien auseinander gesetzt, seine Minimal Music allerdings eher vernunft- denn seelenbasiert aufgesetzt. KUNIKO Kato ist eine PerkussionVirtuosin, die anno 2011 schon mal Reich-Stücke gespielt hat. Der Erfolg gab ihr die Kraft, weiter an diesem Thema zu forschen und – gut Ding will Weile haben – nun gibt es mit "Kuniko Plays Reich II" (Linn) einen würdigen Nachfolger. Bei ihrer das Werk eröffnenden "Four Organs" Fassung gerät der Rumba-rasselnde shaker (zumindest meiner Wahrnehmung nach) ab und an ein klein wenig aus dem Rhythmus, dem Metrum, dem Metronom. Doch das ist zum einen sicher Absicht und zum anderen ist der shaker hier auch nur eine kleine (wenn auch wesentliche) Begleitung für die langen Orgeltöne, die Steve Reich sich für dieses Stück ausgedacht hat. Nahezu brillant ist Kunikos Vibraphon-Arrangement der berühmten "Piano Phase": die Weichheit des Vibraphones trifft hier auf die repetitive Strenge der Komposition, wobei Kuniko die PhasenBetonung und auch deren sanfter Wechsel sehr gut gelingt. Dunkler und beinahe noch weicher die folgenden Nagoja-Marimbas – ja, hier wurde Reich richtig und neu verstanden. 5
Jetzt aber endlich Norwegen: ANGLES & ELLE-KARI WITH STRINGS - das ist die EngelBand des SaxophonHelden Martin Küchen und die wilde Sängerin Ellekari Larsson. "The Death Of Kalypso" (Thanatosis) heißt die Platte, auf der Elle-Karin zur mal free-jazzigen, mal auch beinahe SoftRock-igen ("A campaign of tragedy") Begleitung zwischen angenehmer Hysterie, Vaudeville-Cabaret und Freiem Gesang pendelt. Geisterhafte Vokalisen und SchrägMusik – eine feine Mischung. 4
Nicht minder spannend ist die Kollaboration von CHRISTINA KUBISCH & TRONDHEIM VOICES. Deren Ergebnis heißt kryptisch "Stromsänger" (Important) und ist gemäß Untertitel eine Anordnung "for six voices and electromagnetic waves". Deren WeltPremiere im Trondheimer Rådhussalen wurde am 20.08.22 mitgeschnitten und erscheint nun als streng limitierte LP "on undyed natural color vinyl" (und natürlich als DL). Die deutsche KlangForscherin hat dafür in Trondheims City (z.B. in der Straßenbahn) elektromagnetische Wellen gesucht und gefunden, gesammelt und gespeichert, bestaunt und bearbeitet. Die wurden dann – Mr. Lucier lässt grüßen – in einer Kirche immer wieder abgespielt und aufgenommen; solange bis Wellen, KirchenAkustik und AufnahmeSchwankungen eine ganz eigene, nachgerade überirdische KlangÄsthetik hervorbrachten. Dazu der somnambule, ähnlich außerweltliche und sehr getragene Silbengesang des DamenChors - eine packende HörErfahrung! 5
Ähnlich gelagert und ebenso gelungen ist "Ma" (Line) von der serbischen KlangKneterin und ElektroAkustikerin MANJA RISTIĆ. Die hat in einen merkwürdig schwebenden, hallenden, kaum modulierten und doch latent angriffslustigen SanftDrone einige kleine Zwitschereien eingebaut – das erste der beiden Stücke heißt nicht ohne Grund "The Ant & The Cricket", denn das hinter dem hydrophonen drone liegende Zirpen und Knuspern stammt tatsächlich von einem "giant anthill in the abandoned forest quarry" und einem "Cricket chorus next to Pohořský rybník lake". Es folgt ein latent blubberndes Stück mit dem sprechenden Titel "Full Moon Trembles On The Surface Of The Creek" und dazu die Zen-hafte Weisheit: "Nothing is necessary. Nothing holds everything together." Oh ja! 5
Noch ein anderes Verständnis von bewusstseinserweiternder drone-art präsentieren GARETH DAVIS & MONIKA BUGAJNY. Mit Klarinette und Bassklarinette erzeugen sie etwas, das sich nach einem bloßen Sinuston anhört, aber bei konzentriertem, quasi meditativem Zuhören einmal mehr eine unerhörte Fülle entwickelt. Der zunächst vermeintlich stoisch um 170 Hz (also irgendwo zwischen e und f) pendelnde Ton gewinnt Textur, beginnt sich an seiner Oberfläche zu kräuseln, zu falten, zu glätten, zu verwirbeln – kurz: "Becoming"(Moving Furniture)" ist ein aufregendes dreiviertelstündiges Hörerlebnis. 5
Mit THEO NABICHT und dem CIRCLE LINE PROJECT fahren wir mal dieses Mal durch "Wien" und "London" (beide Moloko Plus). Fahren ist dabei ganz wörtlich gemeint, denn die beiden LPs enthalten 62 (London) bzw. 19 (Wien) TonSchnipselein, die sich auf die lokalen Nahverkehrssysteme beziehen (es gibt dergleichen auch schon von der Berliner Ringbahn). An Bord sind neben Sprecherin Lisa Spalt PlattenSpieler Joke Lanz, Perkussionist Alexandre Babel und natürlich SaxSpieler Theo Nabicht. Die Londoner KurzImprovisationen sind ganz unterhaltsam zu hören, aber ohne jenen Überraschungseffekt, wie ich ihn mir angesichts der Besetzung eigentlich erhofft hatte. Das Prinzip "TrötKlapperScratch" ist etwas zu (schnell) durchschaubar. Steigen wir aber z.B. am Wiener "Schottenring" zu, wird die Sache endlich spannender, denn hier kommen zu röchelndem Sax, SchallplattenAkzenten und aleatorischem Schlagzeug sarkastische Geschichten aus dem Wiener Alltag. 4
Das von Akkordeonist Jonas Kocher initiierte ŠALTER ENSEMBLE hat "Tri dela" (Sploh/Bruit Editions), also drei Teile. Deren erster, gebieterisch "My Wish Is Your Command" geheißen, erfreut den Lärm gewohnten Konsumenten mit einer dekonsturierten Marchin Band und KnurrStimmen, gegen Ende hin sogar mit einem kakophonischen Klavier. #2 "Interstices / Interferences" sind wirklich Interferenzen: sich an den richtigen Stellen durch Überlagerung verstärkende Improvisationen, Gedanken und Ideen. Der HörSpass endet mit "Šum II", einer Art auraler HexenBeschwörung, die gerade dynamisch sehr interessant ist, wegen ihrer extrem langsamen Entwicklung aber auch eine kleine Geduldsprobe darstellt. 4
Schon beinahe als EchtZeitMusik/Impro-"all-star-ensemble" geht das Berliner SPLITTER ORCHESTER durch. Die aktuelle (3fach) CD "splitter musik" (Hyperdelia) ist tatsächlich die erste, auf der ausschließlich eigene Stücke zu hören sind. Als da wären: die im November 2019 (also kurz vor Corona) im Berliner Silent Green aufgenommene einstündige GruppenImprovistation "Vortex" – ein betörender Amalgam aus NoiseFetzen, beinahe PostRock-enden Passagen und drone-Teilen. CD 2 gehört dem von Kai Fagaschinski unter dem Eindruck der Pandemie-bedingten Beschränkungen angestoßenen "Imagine Splitter", für das insgesamt 22 Musiker jeweils alleine im stillen Kämmerlein aufnahmen, was sie sich so unter "Splitter" vorstellen. Diese solo-recordings wurden zu einem GesamtWerk gefügt, auch das eher geräuschhaft, aber (in my ears) fast dichter an einer typischen Splitter-LivePerformance als "Vortex". Den Abschluss bildet das beinahe 2 Stunden lange "PAS", wobei Kenner der Berliner Szene mit PAS sofort den "Petersburg Arts Space" in Moabit assoziieren. Und genau da spielten die Splitters auch im Sommer 2020 – ganz allein auf dem alten Fabrikgelände am Spreeufer. Das Publikum stand gegenüber auf der anderen Seite des Flusses und so werden hier die Nebengeräusche (Hundegebell, plätscherndes Wasser, kreischende Kinder oder BierflaschenKlappern) zu Mit-Akteuren. 4
Zum Schluss nochmal ein großer Sprung. Zurück zum Klavier, zurück zur Ordnung. Ordnung in aller Freiheit allerdings, denn wenn der große BRAD MEHLDAU Klassisches interpretiert, dann trifft konventionell Komponiertes auf gekonnt Improvisiertes, konkret "After Bach II" und "Après Fauré" (beide Nonesuch). Vom französischen (Spät)Romantiker Gabriel Fauré wählte Mehldau 4 Nocturnes und einen Ausschnitt aus dem Klavierquartett Nr. 7 aus, die in ihrer feingliedrigen Melancholie vier Mehldau-Stücke umrahmen, in denen durch gespiegelte MelodieFiguren oder geschickt verschleppte Rhythmik Jazztypisches dominiert. Von Johann Sebastian himself stammen vier Präludien und eine Fuge aus dem "Wohltemperirte(n) Clavier", zwischen die Mehldau einige Improvisationen "nach Bach" streut. Sieben Variationen über das legendäre Goldberg-Thema schenkt uns Mehldau auch – und die sind wirklich schlicht wunderbar anzuhören. In Mehldaus Worten: "In meinen improvisierten Soli möchte ich melodische Phrasen mit harmonischen Implikationen bilden und Harmonie erzeugen, die sich auf melodische Weise bewegt." Und ich dachte immer, ich drücke mich zu kompliziert aus - für musiktheoretisch besser als ich Ausgebildete gibt’s hier sicher noch viel mehr zu entdecken! 6/4
Bach und Faure finden sich auch auf der letzten Platte, die ich euch in diesem Monat empfehlen möchte. Wobei: etwas mehr erwartet hatte ich – to be honest – von "Four Hands"(Erato), einer CD, auf der ALEXANDRE THARAUD & FRIENDS Stücke zu vier Händen spielen, schon. Die Nr. 5 von Brahms’ "Ungarischen Tänzen" eröffnet den Reigen (hier greift neben Tharaud Bruce Liu in die Tasten), dann folgen u.a. Tschaikowski, Ravel, Satie, Schubert, Haydn, Mozart, Debussy und Rachmaninoff – sogar ein Stück von Phil Glass ist zu hören. Mitspielen dürfen KlavierGrößen wie Mariam Batsashvili und Víkingur Ólafsson, auch David Fray, Beatrice Rana und ein (aus Rechte-Gründen?) anonym bleibender "Mr. Nobody" sind dabei. Selbst Countertenor Philippe Jaroussky (für eine "Barcarolle" des weniger bekannten Fauré-Zeitgenossen Gabriel Pierné) und Cellist Gautier Capuçon (bei Satie) setzten sich neben Tharaud ans Klavier. Gute Musiker also, gute Komponisten, gute Idee – aber zu viel Durcheinander, zu viel "mal hier – mal da", zu wenig Stringenz, zu wenig "klare Linie". So bleibt vom schönen Konzept leider nicht viel mehr als eine freundlich-nette Klimperei. Aber das ist ja auch was...3

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