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CHRISTOPH HEIN

Das Narrenschiff

(Suhrkamp, 751 S., 28,00 Euro)

Es kann einem durchaus ein wenig mulmig werden, wenn man als kleiner WESTZEIT-Buchbesprecher den von "Zeit" bis "nd" durchweg bejubelten "großen DDR-Roman" des zweifellos großartigen Christoph Hein beim Lesen gar nicht so prima findet. Denn wie können all den prominenten Rezensenten die meiner Meinung nach durchaus reichlichen und zu einem so gestandenen Autoren wie Hein so ganz und gar nicht passen wollenden stilistischen und handwerklichen Mängel nicht auffallen (und dem Suhrkamp-Lektorat auch nicht)? Also: mit dem "Narrenschiff" ist, wie man schnell erkennt, der sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat gemeint, den die in Moskau geschulten KPD-Funktionäre nach dem Krieg im Osten des untergegangenen Deutschen Reichs aufbauen wollen. Dass dieser Osten eigentlich die Mitte Deutschlands war und die geplanten Republik ohne Schlesien und Pommern nicht lange überleben wird, versuchten Walter Ulbricht und seine Genossen den sowjetischen Freunden eine Weile lang klar zu machen – dieses (natürlich erfolglose) Insistieren ist eine der (für mich) neuen GeschichtsErkenntnisse aus diesem Text, eine andere der konkrete, im Wortsinn handfeste und intrigenreiche Verlauf der Machtkämpfe zwischen Ulbricht und seinem Nachfolger Honecker (der Ulbricht schließlich quasi mit vorgehaltener Waffe zum Rücktritt zwang). Die (durchaus angebrachte) Euphorie der unmittelbaren Nachkriegszeit (Brecht dichtete noch 1950: "Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand / Daß ein gutes Deutschland blühe / Wie ein andres gutes Land.") verglüht leider schnell in der tristen Realität der stalinistischen Bürokratie. Hein zeichnet diese und die folgenden Entwicklungen anhand einiger miteinander befreundeter Familien nach: ein vom Nazi-Feldwebel zum Stalinhörigen gewandelter Karrierist und seine vor allem an materiellen Dingen interessierte opportunistische Gattin, ein idealistischer, aber durch seine Erlebnisse im Moskau der 40er Jahre auch ängstlich gewordener Ökonomie-Professor (und Mitglied im ZK der SED) und ein schwuler Shakespeare-Kenner, der seine Exiljahre am falschen Ort verbrachte (London ist nicht Moskau) und deshalb aufs intellektuelle Abstellgleis rangiert wird, sind die Hauptfiguren - und damit gleichsam ein Kaleidoskop der DDR-Elite. Farblos und flach dienen die Helden hauptsächlich zum Aufsagen von langen, oft wenig realistischen Dialogen. Eine lebensnahe psychologische Tiefe fehlt ihnen, sie bleiben eindimensionale Stereotypen ohne Schattierungen, Grautöne oder gar Wandlungen. Das gilt auch für ihre Motivation(en), Ängste und Hoffnungen – unser Karrierist z.B. kommt bei erhofften Beförderungen aus unterschiedlichen Gründen regelmäßig zu kurz und seine Frau ertränkt die ihr fehlende emotionale und erotische Nähe entweder im Alkohol oder durch spontane Schuhkäufe. Auch die zeitlichen Sprünge sind in der linear erzählten Geschichte zuweilen etwas verwirrend. Gerade war die Tochter der eben Erwähnten noch ein präpubertäres Schulkind und schon im nächsten Kapitel trifft sie sich unvermittelt zum Tête-à-Tête mit einem Westberliner Studenten; mal vergehen auf 10 Seiten 2 Tage, mal 5 Jahre – hier wäre es hilfreich gewesen, wenn Hein seinen (gelungenen) Kapitelüberschriften ein orientierendes Datum nachgesetzt hätte. Erzählerische Tiefe gewinnt der Text jedenfalls nie, der Duktus ist durchgängig überaus trocken - was als subtiler Verweis auf das zähe Grau der realen DDR vielleicht noch als stilistisches Mittel durchgehen könnte (an einer Stelle heißtes treffend: "Jaja, hölzern wollen sie es, fade, farblos und sehr, sehr einfältig, aber politisch und pädagogisch korrekt."), wenn es denn auf den 750 Seiten irgendwo einen kraftvolleren, lebensfroheren Kontrast gäbe. Und doch steckt viel Wahrhaftigkeit in diesem Roman, so z.B. diese (früh gewonnene) ernüchternde Erkenntnis des ZK-Mitglieds: "Man darf sich irren, aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht." Selbst die späten Jahre der DDR, in denen es allerorten rumort, in denen es wider jedes Erwarten sogar zum Verbot der Zeitschrift "Sputnik" kommt (die war immerhin das offizielle "Digest der sowjetischen Presse" – blöd nur, dass dort ab 1988 "Glasnost" Einzug hielt, was den DDR-Hardlinern um Hager und Honecker so gar nicht in den Kram passte) und schließlich vor allem junge Leute ihrem Heimatland endgültig den Rücken kehren (Stichwort "Ungarn" und "Prager Botschaft" – im Roman fällt der schöne Satz: "Man hat uns die Welt gestohlen."), selbst diese wahrhaft turbulenten und (zumindest in den Nischen) auch durchaus bunten Zeiten werden in einer Art NachrichtensprecherTon beschrieben. Was ich persönlich schade finde. Wie auch die Konzentration auf den (für die Ostlern unerwarteten) Bedeutungsgewinn von Grundbucheintragungen nach dem Untergang der DDR: obwohl eines der letzten Kapitel "Begrüßungsgeld und arbeitslos" heißt, scheint die Unsicherheit von Wohnung und (vermeintlichem) Grundbesitz das Hauptproblem der Protagonisten zu sein. Als historischer Abriss ist der Roman dennoch interessant - und so konzentriert wir hier findet man die Essenz von DDR-Biografien nur selten.
Weitere Infos: www.suhrkamp.de/buch/christoph-hein-das-narrenschiff-t-9783518432266


Mai 2025
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