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Wir fangen bei "A" an, "A" wie A CERTAIN RATIO. Die UrHelden des funkorientierten PostPunk, haben mit ihren Factory-Alben in den 80ern Musikgeschichte geschrieben und veröffentlichen seit 2020 wieder in schöner Kontinuität hochwertige Platten. MegaInnovationen darf man dabei nicht unbedingt erwarten, aber ihre Coolness bringen sie nach wie vor fehlerfrei an den Start und verpacken darin auf "It All Comes Down to This" (Mute) auch die eine oder andere politische Botschaft (ganz wunderbar z.B. in "Estate Kings"). 4Oder "A" wie ARAB STRAP, die bei immer irgendwie unter dem Radar blieben. Dabei ist das den schönen Titel "I’m totally fine with it don’t give a fuck anymore" (Rock Action) tragende neue Werk wirklich prima. So könnten New Order vielleicht klingen, wenn sie sich nicht für Dance, sondern für Rock entschieden hätten – zumindest denke ich das beim Hören von "Bliss", das auf einen rauen opener aus der Mogwai-Schule folgt. "Summer Season" erinnert dann – auch dank seines sonoren drum-machine-beats - an das seit langem zu meinen persönlichen All-Time-Top20 gehörende "Disco 2000" von Jack. Und so geht es munter weiter durch die AssoziationsHölle, wobei es natürlich auch gut sein kann, dass all diese Bands nur klingen wie Arab Strap und ich das erst jetzt bemerke. 5
Damit zu "B", also zu BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS, die es nach 40 Jahren Ruhe nochmal wissen wollen. Ich halte re-unions oder come-backs in den seltensten Fällen für sinnvoll und auch das von Bärchen vermag mich nicht vom Gegenteil zu überzeugen. Obschon "Die Rückkehr des Bumm!" (Tapete) einige durchaus lustige Liedchen enthält, z.B. das dezent selbstironische "Happy Bonbons" in dem Annette "Bärchen" Simons klar stellt, dass sie weder vorher noch nachher eine Pille braucht und "kein Stress mit PMS" hat, denn: "Ich bin alt / ich darf alles". 4
BIG|BRAVE vertreten auf "A Chaos Of Flowers" (Thrill Jockey) ein ganz anderes "B", nämlich eines voller schleppender hochverzerrter GitarrenRiffs, die sich zu wirklich bedrohlichen FeedbackWänden schichten und die verzweifelt-zarte Stimme von Gitarristin und Sängerin Robin Wattie zu zerquetschen drohen. Klar, dass die sich da mit zwischen Geschrei, Gehauch und Gejammer pendelnder KehlenAkrobatik wehren muss. "massive minimalism" nennen das manche und das stimmt. 5
Da sind "C" wie CAMERA OBSCURA deutlich entspannter und trotz aller den Stücken auch innewohnender Melancholie fröhlicher. Denn auf "Look to the East, Look to the West" (Merge) geben sich die indiepop-enden Schotten alle Mühe, noch das finsterste Gemüt aufzuheitern. Es beginnt wie Everything But The Girl und endet beinahe Country-esk, ist dabei immer CAMERA OBSCURA und somit wunderschön. "We’re gonna make it in a man’s world"! 4
Nicht dass ich auch nur die leiseste Ahnung hätte, wer LOUIS CARNELL ist, auch von dessen "111 Series" (Mute) habe ich bis dato noch nie gehört. Aber ich kenne und schätze Leute wie Lee Ranaldo, Daniel Miller, Ben Vince oder Okkyung Lee und die haben (neben vielen anderen) alle an dieser Platte mitgewirkt. Für jedes der 15 Stücke lud Carnell einen Künstler ein - gleich im opener "One" jault Keeley Forsyth so schön wie es sonst wohl nur Anohni kann. Es folgt eine GitarrenZerrung mit Lee Ranaldo und dann bei "Three" wunderschöne BläserTupfen von Ben Vice. "Four" ist ein schöner drone von Yara Asmar, "Five", mit Coby Sey eingespielt, dto. - nur vielleicht etwas hochtöniger. Bevor ich hier jetzt track-by-track alles verrate, brechen wir lieber ab und empfehlen diese "111 Series" jedem, der ein offenes Ohr für abstrakt-avantgardistische Schönheit hat. 5
RAY COOPER kann und will auch auf "Even For A Shadow" (Westpark) nicht verbergen, dass er über 20 Jahre bei der Oysterband gespielt hat. Solider FolkPop mit hörenswerten Texten (z.B. "Falling Like Thunder") und dezenten Americana-Anleihen. 4
"D" = DRIFTMACHINE & AMMER. Das aus Andreas Gerth (uva. Tied & Tickled Trio) und Flo Zimmer (uva. ISO 68) bestehende Duo Driftmachine hat sich mit dem großen HörspielMacher Andreas Ammer zusammengetan, um auf "Sonic Behaviour" (Umor-Rex) seine rhythmisierte KlangForschung mit großen (spoken word)Geschichten zu verbinden. Zunächst erfahren wir im "Lied an den Lärm", das natürlich "Song To Noise" heißt, hochinteressante Neuigkeiten über splitterndes Glas, Staubsauger oder Hörrohre. Der Text stammt von der walisischen Dichterin Deryn Rees-Jones, die Teile auch selbst eingesprochen hat; die deutsche Stimme ist die von Neubau Alexander Hacke. Dann ruft uns Ted "Blurt" Milton den Physikunterricht ins Gedächtnis und erklärt in "The Siren Is A Simple Device" nochmal kurz, wie eine Sirene funktioniert. Das alles zu dubbig-groovenden beats und kurzweiligen StörGeräuschen (bei #2 natürlich solchen von Sirenen). Dann kommt noch eine phantastische "Sonic Sculpture", die über den Klang eines Klaviers, das die Treppen herunterfällt, nachdenkt. Die letzten 9 der insgesamt 40 Minuten gehören dann einer InstrumentalFassung des "Song To Noise". Sehr gute Arbeit, das! 5
Oder "D" wie DENSELAND - das sind Hanno Leichtmann und Hannes Strobl gemeinsam mit dem Dichter David Moss. Und die erzählen (im Wortsinn) auf "Code & Melody"(arbitrary) eine wundersame (im Wortsinn) Geschichte zu ebenso wundersamen (im Wortsinn) ElektroKlickerKlackerKlimper- und dunkel-dubbigen Bass-Schlagzeug-Sounds (insbesondere im letzten Stück durchaus wieder: im Wortsinn). "It’s the galaxy is calling, like a mantra!" Unaufgeregt aufregend. 4
"E" wird vertreten von BRIAN ENO, HOLGER CZUKAY, J.PETER SCHWALM und Leuten von Schwalms Band SlopShop. Die traten im August 1998 gemeinsam in Bonn auf (was zugleich der Start für einige andere Kollaboration von Ene und Schwalm war) und verzauberten das Publikum sehr. Jetzt ist ein Mitschnitt dieses Konzerts aufgetaucht, der als "Sushi. Roti. Reibekuchen." (Grönland) in die Läden kommt und schlicht das best of both (vielleicht sogar dreier) worlds verbindet: das ausufernde, verspielte und impulsive Element von Krautrock und die reduzierte Stringenz der elektronischen Einwürfe machen den Viertelstünder "Sushi" zu einem sehr gelungenen opener für die folgenden KrautDubDownBeat-Experimente. Nach ein wenig "Roti"-Brot gibt’s "Wasser", sehr versonnen und ambient. Mit einer geringfügig höheren Drehzahl könnte man das Werk auch für ein The Orb-Opus halten. Als 3. Gang folgen entrückte "Reibekuchen" und danach ein wenig "Wein" – war offenbar wirklich ein toller Abend, damals. 5
Wir springen zu "G" und hören GORDAN mit ihrer s/t LP/CD (Glitterbeat). Die enthält eine zunächst verstörende, aber mit zunehmender Spieldauer immer wirkmächtiger werdende Mischung aus zerklüftetem AvantAntiImproRock und traditionellem BalkanGesang aus der Kehle der Serbin Svetlana Spajić. BassGitarre und "various electronic sound generators, feedback and effects" bedient hier kein Geringerer als Guido Möbius und die markanten Trommeln schlägt Andi Stecher. Dass sich das alles so wunderbar ineinander verschränken lässt, sollte nicht verwundert, tut’s aber doch. Groß! 5
Mit "H" wie HALVA begegnen wir einer eher konventionellen Auffassung von BalkanMusik. Mal getragen, mal etwas wilder spielt sich die international besetzte Kapelle auf "Musafir" (Zephyrus) durch v.a. griechische oder rumänische Stücke (mitsamt einiger Klezmer-Anklänge). Gespielt wird neben Akkordeon, Klarinette und Geige auch Cello, Kanun (das ist eine Zither) und Ney sowie natürlich reichlich Perkussion. Der Gesang stammt von der Griechin Andriana Achitzanova und passt in seiner traditionsbewussten Art recht gut zu dieser vielleicht ein wenig zu brav geratenen Platte. 3
"Five Ways to Say Goodbye"(Mute) kennt MICK HARVEY. Der große Crooner covert hier u.a. Ed Kuepper, David McComb und Lee Hazelwood, hat aber natürlich auch einige grandiose Nummern aus eigener Feder dabei. Harveys wundervolle Musik ist und bleibt oppulent (und perfekt produziert), dieses Mal scheint sie mir aber beinahe ein wenig reduziert(er), näher an Folk- oder SiSo-Ideen. Aber traumhaft schön! 5
"I" wird vertreten von iHÄXA, die jetzt "Part 2" (Pelagic) ihres auf ein ganzes Jahr angelegten EP-Projekts vorlegen. "Part 1" fanden wir vor einigen Wochen sehr hörenswert (s. WZ 03/24), dieses Mal scheint die Konzentration jedoch etwas nachzulassen. Wenngleich die Verbindung von Rebecca Need-Menear wandlungsfähiger DarkWaveStimme mit Peter Miles’ SoundKonstrukten auch hier ihre spannenden Momente hat: "heartwarming and horrifying" – mag sein. 3
JAN JELINEK hat gleich zwei "J"s zu bieten. Und ein großartiges Experiment in Sachen "Social Engineering" (Faitiche) extra noch. Jelinek hat die Phishing-Mails in seinem Spam-Ordner gesichtet und aus den dort verbreiteten Dreistigkeiten 36 Minuten wahrhaftiger ExperimentalKunstMusik herausgelöst. Die Mailtexte ließ er dafür von einer SprachSoftware "einsingen", mal als ComputerStimme, mal als weich schmeichelndes FrauenOrgan, mal als frech fordernder Krimineller – illustriert durch Verzerrungen, Verschleifungen, Spiegelungen und Umkehrungen wird aus all diesen Schnipseln ein ebenso lustiges (man kennt ja die meisten dieser abstrusen Geschichten und muss doch immer wieder kopfschüttelnd schmunzeln, dass wirklich jemand auf diesen Quatsch hereinfällt) wie thematisch wichtiges (schließlich gibt es auch wesentlich geschicktere, subtilere und somit auch erfolgreichere, deshalb auch recht beängstigende Ausformungen von Social Engineering) Album von großen handwerklichen Geschick. 5
Jetzt müssen wir einige Buchstaben überspringen, weiter geht’s erst mit "R", nämlich THE REDS PINKS AND PURPLES. Noch immer frönt Glenn Donaldson aus San Francisco als hochbegabter Alleinunterhalter unter dem lustigen Projektnamen seiner Schwäche für Morrissey-haften Gesang zu fluffigem JanglePop. Wobei jener auf "Unwishing Well" (Tough Love) an manchen Stelklen sogar mal ganz leicht ins Velvet Underground-ige kippt (z.B. in "The Reds, Pinks ... in Daydreaming Youth"). Schöne Weltentrückheit. 4
Die Italienerin CHARLIE RISSO singt auf "Alive" (T3) mit angenehmer und ausdrucksstarker Stimme ihre elektronischen Chansons. Wobei wir Chanson in diesem Fall wirklich als Lied auffassen wollen. Als Lied, das sich zu fein verzierten ElektroKonstruktionen voller Americana- oder düsterer AntiFolk Verweise entfalten darf. Beim phantastischen "The Wolf" singt gar Hugo Race mit ihr im Duett...toll! 5
Ganz sicher unter "S" sortieren wir STEFANIE SCHRANK ein. "S" auch wie "super", denn auf ihrer neuen Scheibe namens "Schlachtrufe BRD" (Staatsakt) folgt nach der gleichnamigen musikalischen Sozialisierungsreflexion bald ein schönes Instrumental: "Manda (to the Sea as Mothra to the Earth)" verknüpft feine SynthSpielchen mit einem stringenten RhythmusZischen und einigen GitarrenSpuren. Nach dem "Dream Diary Pt. 1" kommt mit "Amöbe" dann wieder so eine 7:30-Miunten-Etude, die mir aus jeder Note entgegen schreit: "Hör auf, selbst an Synthesizern herumzudrehen, das können andere einfach viel besser." Z.B. eben die Locas In Love-Bassistin Stefanie Schrank. 5
ANDREA TAEGGI, der hier für "T" steht, lebt – wie so viele Italiener – in Berlin. "Nattdett" (Hands in The Dark) heißt seine LP, die er mit z.T. obskur rarem Equipment eingespielt hat (darunter lt. Info "the analog computer from the Willem-Twee synthesis studio in the Netherlands, initially employed for flight simulation in Cold War-era"). Klanglich erinnert das zu komplex-minimalistischen patterns arrangierte abstrakte Klopfen, Flirren, Knacken, Zischen und Blubbern (gemessen in "Femtohertz") des Öfteren an den raster-GroßMeister Frank Bretschneider – und es gibt weiß Gott wesentlich schlechtere Referenzpunkte als diesen! 5
Mit "V" wie VEDAN KOLOD kommen wir zum Ende. Die sibirische FolkTruppe widmet ihren neuen Beitrag zum Russian Folk den "Birds" (CPL), den Vögeln. Deshalb trägt auch jedes Stück einen Vogelnamen. Bei "KooKoo" kuckuckt es da natürlich im Hintergrund, ansonsten ist das KlangBild bestimmt vom charakteristisch klagenden, Melismen-reichen Gesang, von Gitarren (bzw. Bouzoukis und Mandolinen) und Bass, diversen Flöten und einigem an schamanistischen Exotika (wir hören z.B. eine skythische Harfe, ein "Kriegshorn", Maultrommeln, Dudelsack, Gusli, Drehleiern und natürlich reichlich Trommeln und Rasseln). 4
Ob die "Tribute I + II" (Grönland) nun unter "V" wie "Various Artists" oder "N" wie NEU! Eingeordnet werden müssen, lassen wir mal offen. Tatsache ist jedoch, dass es ganz offenbar Musik gibt, die man einfach nicht mehr verbessern kann. Bei NEU! ist das der Fall, denn obwohl sich mit Idles,The National, Fink, Mogwai, Stephen Morris und Gabe Gurnsey oder Yann Tiersen (um hier nur mal die bekanntesten der hier Beteiligten zu nennen) nun wirklich großartige Musiker versuchten, kann doch keiner den NEU!-Originalen etwas Gehaltvolles hinzufügen, das nicht schon vorher in den Stücken da war. Verblüffend, aber wahr. Trotzdem eine hörenswerte Sache, diese zuerst als Teil der Box zum 50. Geburtstag des NEU!-Debuts veröffentlichte Doppel-LP. 4
"Z" wie Zimalla – wir sind am Ende.
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