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NATION OF LANGUAGE

Persönlichkeit schlägt Perfektion

NATION OF LANGUAGE

Mit ein bisschen Glück und viel harter Arbeit zum wohlverdienten Erfolg: Während der Pandemie avancierten Nation Of Language mit zeitlos schönen Vintage-Synth-Pop-Songs zwischen Schwermut und Hoffnungsschimmer zum Soundtrack der kollektiven Niedergeschlagenheit. Auf seinem Mitte September erscheinenden vierten Album, "Dance Called Memory" – dem ersten für das Traditionslabel Sub Pop –, zelebriert das in Brooklyn heimische Trio nun seine Liebe zum Sound von gestern so ergebnisoffen, facettenreich und dennoch ohrwurmverdächtig wie nie zuvor.

Beeinflusst von den Synth-Pop-Pionieren der frühen 80er Jahre, hob Ian Richard Devaney Nation Of Language vor rund einem Jahrzehnt gemeinsam mit Aidan Noell und Michael Sue-Poi (seit 2022 abgelöst durch Alex MacKay) aus der Taufe. Mit herrlich unterkühlten, von Post-Punk geküssten Elektronik-Pop-Songs fand das Trio auf seinem 2020 erschienenen LP-Erstling "Introduction, Presence" zu einer ganz eigenen, herrlich raffinierten und oft spürbar melancholischen Interpretation alter Synth-Pop-Tugenden und traf damit nicht nur in den Zeiten der Ausweglosigkeit des Lockdowns einen Nerv, oder wie die Plattenfirma so schön schrieb: "Devaneys Berufung ist es, individuelle Verzweiflung gefühlvoll in eine tröstliche, kollektive Trauer zu übersetzen."

Auf den Nachfolgern "A Way Forward" (2021) und "Strange Discipline" (2023) ließen die Amerikaner dann vermehrt ihrer experimentellen Ader freien Lauf, entdeckten ihr Faible für Krautrock und ließen auch vermehrt Live-Instrumente in den Arrangements zu. Auch auf dem fabelhaften neuen Album steht nun das Entdecken der Möglichkeiten hörbar im Mittelpunkt.

Dass die Band so unerschrocken ihren eigenen Weg geht, kommt nicht von ungefähr.

Am Ende kommt es immer anders, als man denkt", sinniert Devaney, als wir ihn und Noell – seine Partnerin bei Nation Of Language und inzwischen auch seine Ehefrau – zum Videochat treffen. "Immer, wenn ich einen Song geschrieben habe und dachte: Ich wette, die Nummer wird richtig einschlagen, habe ich danebengelegen und andere Songs waren viel populärer. Ich weiß nicht genau, was bei den Leuten ankommt, aber solange ich weiterhin Dinge mache, die ich selbst interessant finde, denke ich, dass zumindest einige dieser Menschen am Ball bleiben werden."

Tatsächlich hat sich dieses vermeintlich simple Erfolgsrezept für die Band in den letzten zehn Jahren mehr als ausgezahlt.

"Wir haben in den ersten zehn Jahren definitiv mehr erreicht, als ich jemals für möglich gehalten hätte", gesteht Devaney. "Die Zeit, als ich noch ganz klein war, einmal ausgenommen, hatte ich nie das Ziel, so berühmt wie die Beatles zu werden. Aber als ich älter wurde und mit meinen Freunden in Bands spielte, hatte ich eine Checkliste mit meinen Zielen im Kopf. Das waren Sachen wie: Wäre es nicht wirklich cool, in dieser Publikation zu erscheinen oder eine Live-Radiosession bei diesem oder jenem Sender zu machen? Mit der Zeit haben wir viele dieser Meilensteine von der Liste streichen können, aber es fällt mir immer noch schwer, uns als die Art von Band zu sehen, die in der Lage ist, solche Ziele zu erreichen. In meinem Kopf sind wir in Gedanken immer beim nächsten Projekt oder bereiten uns auf die nächste Tour vor. Wir klotzen ständig ran! Aber gerade deshalb ist es sehr wichtig, innezuhalten und sich zu freuen und dankbar zu sein für das, was wir bisher erreicht haben. Dass wir die kompletten USA, Europa und Südamerika bereisen dürfen, in Konzertsälen und bei Festivals spielen, die für mich legendär sind, das ist einfach unglaublich!"

Auf den Weg gebracht hatte die Band einst der Zufall. Devaney hörte im Auto seines Vaters die wegweisende Synth-Pop-Nummer "Electricity" von OMD, und das inspirierte ihn, nach dem Ende seiner von Punk, New Wave und Power-Pop beeinflussten Band The Static Jacks die Gitarre erst einmal beiseitezulegen und sich mit vergleichsweise krudem Equipment – einem billigen Keyboard mit Presets, einem Synthesizer, den er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, und einer Bassgitarre – einem ganz anderen Sound zu widmen. 'Wie ein Höhlenmensch' habe er sich der neuen Aufgabe gewidmet, erzählt er. Damit begab er sich auf eine Entdeckungsreise, die ihm unerwartete Erkenntnisse bescherte.

"Es gibt eine bestimmte Version von 'Electricity', die sogenannte DinDisc-Version, und die Aufnahme ist einfach vollkommen dahingeschlunzt", sagt er rückblickend. "Mir war zuvor nicht bewusst, dass man Synth-Musik machen und dabei so schlampig zu Werke gehen kann! Das hat vor allem die Punk-Seite meines Gehirns sehr angesprochen, die zu diesem Zeitpunkt den größten Teil meines Gehirns ausmachte. Es war einfach revolutionär zu erkennen: Oh, man muss nicht alles total schön und streng nach Schema F machen."

In gewisser Weise setzen Nation Of Language genau diese Erkenntnis auf ihrem neuen Album konsequenter um als je zuvor. Nachdem das Trio auf den vorangegangenen Platten vor allem an Nuancen geschraubt hatte, ist die klangliche Neuausrichtung auf "Dance Called Memory" praktisch vom ersten Ton an unüberhörbar, wenn gleich beim Opener "Can't Face Another One" plötzlich Mundharmonika und Gitarre und nicht etwa ein Jahrzehnte alter Synthesizer die Richtung vorgeben, sich das trügerisch betitelte "I'm Not Ready For The Change" als kleiner Bruder von My Bloody Valentines "Soon" entpuppt, "Nights Of Weight" ganz am Ende ohne zu flunkern als Akustik-Ballade beschrieben werden kann und selbst die klanglich typischeren Nummern mit vielen kleinen neuen Finessen aufwarten. All das dürfte viele langjährige Fans der Band doch überraschen. Aber war eigentlich die Band selbst bisweilen auch ein wenig erstaunt, welche Formen ihre neuen Songs letztlich angenommen haben?

"Definitiv!", erwidert Devaney. "Ich bin für dieses Album wieder zur Gitarre als primäres Schreibwerkzeug zurückgekehrt. Mit dem Unterschied, dass ich, als ich jünger war, danach zu einer weiteren Gitarre und zu noch einer gegriffen hätte. Obwohl meine Fähigkeiten auf der Gitarre immer noch sehr überschaubar sind, stehen mir jetzt in Sachen Instrumentierung so viele Mittel zur Verfügung, dass die Songs in einer Art und Weise aufblühen können, wie es zuvor nicht möglich gewesen wäre. Ich denke, es gibt eine Reihe von Songs auf der Platte, die sich für mich in gewisser Weise sehr natürlich anfühlen, weil sie von mir stammen, die gleichzeitig aber auch für mich unerwartet waren. Ich hoffe, dass die Menschen beim Hören angenehm überraschet sein werden – und wenn nicht, können sie sich ja unsere alten Platten anhören!"

Allerdings war es nicht nur die Rückkehr zur Gitarre, die Nation Of Language und ihrem langjährigen Freund und Produzenten Nick Millhiser (Holy Ghost!, LCD Soundsystem) bei der Arbeit an "Dance Called Memory" den Weg wies. So wendet sich die Band mit den neuen Songs bewusst gegen kalte, maschinenhafte KI-Ästhetik und folgt damit den Ideen Brian Enos, einem anerkannten Verfechter menschlicher Wärme auch in elektronisch erzeugter und bisweilen betont experimentierfreudiger Musik.

"Als ich Brian Enos Tagebuch 'A Year With Swollen Appendices' las, habe ich viel von dem mitgenommen, was er dort über verschiedene Projekte geschrieben hatte, an denen er arbeitete: was ihn begeisterte und was er als altbacken und langweilig empfand", erinnert sich Noell. "Ich habe das Gefühl, dass alles, was ihn begeisterte, etwas unvollkommen war oder zumindest viel Persönlichkeit hatte. Ich finde es wichtig, sich daran zu erinnern, dass man nicht perfekt sein muss und dass es oft nur darum geht, die Emotion in einem Song zu vermitteln, und nicht darum, den idealen Track aufzunehmen, denn wenn man es übertreibt und versucht, alles makellos zu machen, merkt man beim Hören, dass weniger von der eigenen Identität, weniger Persönlichkeit und weniger Liebe darin steckt."

Ein schönes Beispiel für diese Herangehensweise ist Noells heimlicher Favorit auf der LP, "In Your Head", bei dem sich ausladende Chorstimmen symbiotisch mit elektronischen, tanzbaren Beats verbinden und so altbekannte Nation Of Language-Tugenden organisch auf neues Terrain bugsiert werden. Denn einerseits ist die Nummer meilenweit entfernt von den Frühwerken des Trios, trotzdem führt sie den freigeistigen, genreübergreifenden Ansatz weiter, den Nation Of Language seit den Anfangstagen verfolgen.

Das findet auch in den Songtexten seine Entsprechung, denn auch wenn sich Devaney in Tracks wie "Now That You're Gone", das von seinem an den Folgen von ALS verstorbenen Patenonkel handelt, betont verletzlich zeigt und auch sonst viele düstere Gedanken äußert, ist seine Stoßrichtung doch klar:

"Anstelle von Hoffnungslosigkeit möchte ich den Hörer mit dem Gefühl zurücklassen, dass wir uns wirklich sehen, dass unsere individuellen Kämpfe uns tatsächlich in Empathie vereinen können", lässt er sich im Info zum Album zitieren.

"Ich möchte etwas anbieten, mit dem sich die Menschen identifizieren können, auch wenn sie eigentlich davon überzeugt sind, dass niemand ihre Gefühle verstehen kann", erklärt er. "Die Fähigkeit, jemandem das Gefühl zu geben, weniger allein zu sein, wenn er etwas Schwieriges durchmacht, ist meiner Meinung nach wirklich tiefgreifend und menschlich sehr wertvoll. Das ist mein Hauptanliegen, abgesehen davon, dass ich einfach eine Menge Ideen aus meinem Kopf und meinem Herzen herauskotze. Ich denke, jetzt, wo die Songs fertig ist, verwandeln sie sich in etwas, das ich anderen geben möchte, damit sie es für sich selbst haben können."

Diese Gedanken lassen sich auch auf die Herangehensweise der Band an ihre Live-Konzerte übertragen. Denn wo viele andere Acts, die ähnlich viel auf Tour sind wie Nation Of Language, heute oft nicht mehr tun, als das Minimalprogramm abzuspulen, hat man bei den Shows das Trios stets das Gefühl, dass jeder einzelne Auftritt für Devaney, Noell und MacKay eine echte Herzensangelegenheit ist – ganz egal, ob es sich um einen legendären Club in Berlin handelt oder wie im vergangenen August um ein Open-Air auf einem Schrottplatz in Dortmund.

"Ich finde es wichtig, jede Show so authentisch und unterhaltsam wie möglich zu gestalten", sagt Noell ganz am Ende unseres Gesprächs. "Wenn man so viel unterwegs ist wie wir, ist das der einzige Weg, um zu vermeiden, dass es langweilig wird. Man muss einfach versuchen, bei jeder Show sein Herz zu öffnen und zu sehen, was sie für einen selbst besonders macht. Das funktioniert jedes Mal!"

Aktuelles Album: Dance Called Memory (Sub Pop / Cargo) VÖ 19.09.


Weitere Infos: https://www.nationoflanguage.com/ Foto: Ebru Yildiz


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