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KARL DIE GROSSE

Heldenreise gegen die Angst

KARL DIE GROSSE

Wencke Wollny ist eine vielbeschäftigte Frau. Zwar hatte sie ihr Projekt Karl die Große bereits 2013 gegründet, aber zahlreiche andere Jobs wie z.B. als Musikerin in der Band von Dota Kehr, dem Allstar Projekt Artur & Vanessa, Arbeiten mit Franceso Wilking und diverse Theaterproduktionen, für die sie jeweils auch eigene Songs schreibt, die die Handlung umrahmen, machen es schwierig, auf einer regelmäßigen Basis für das eine oder andere Projekt am Start sein zu können. Nun haben es Wencke alias Karl und ihre Musiker jedoch wieder ein Mal geschafft, mit dem dritten Studio-Projekt „Aufgehoben“ ein neues Album an den Start zu bringen – auch wenn dieses nicht am Stück, sondern in Abschnitten zwischen den anderen Verpflichtungen realisiert werden musste. Dafür sind dann aber auch Gäste wie Max Prosa, Gerd Baumann und Sebastian Horn von Dreiviertelblut und Francesco Wilking mit dabei.

Was ist denn bei der neuen LP sonst noch anders gelaufen, als bei den ersten beiden Alben?

„Das letzte Mal habe ich Songs im Proberaum geschrieben und wir haben die dann gemeinsam mit den Bandmusikern im Studio bearbeitet“, führt Wencke aus, „dieses Mal sind die Songs zwischen den Tour-Pausen entstanden, weil ich ja von Leiptig an den Chiemsee gezogen bin und wir dadurch alle krass verteilt waren. Dann haben eben ganz viele verschiedene Leute, die gerade im Studio waren mitgespielt. Das ist der Unterschied. Ich bin ganz glücklich mit dem Ergebnis, weil so ein abwechslungsreicher Soundmix entstanden ist – und weil so noch eine Bonus-LP entstanden ist, die im nächsten Frühjahr rauskommt. Es gab zum Beispiel eine Corona-Dropbox, wo wir mit Francesco Wilking und verschiedenen Musikern Songs über das Internet aufgenommen haben, die alle noch nicht draußen sind.“

In der aktuellen Bio heißt es ja, dass es auf „Aufgehoben“ generell um Ängste geht. Ist das so richtig?

„Genau“, bestätigt Wencke, „ich stelle hier die Vermutung auf, das wir alle das Gefühl der Angst kennen, dass aber der Umgang damit unterschiedlich gepflegt wird. Entweder kann man sich verletzlich zeigen und zusammen durch die Angst gehen. Es gibt aber auch viele Menschen, die sich Sicherheit in Form von Macht verschaffen müssen. Ich habe versucht, mich gedanklich viel in der Welt der Coaches und Karrieremenschen, die sich Macht verschafft haben, aufzuhalten und mich da hineinzuversetzen. Ich glaube, dass es so etwas auch im kleinsten Familienkreis gibt; denn wenn Leute zum Beispiel aufhören über etwas zu reden ist das auch ein Ausüben von Macht.“

Es geht dann also um Angst vor der Macht?

„Der Ursprung war, dass ich mir vorstellen wollte, zusammen mit jemand da durchzugehen und zu versuchen, das nachzuvollziehen; dieses System aber auch für mich zu entlarven, denn ich glaube, dass man immer an einen Punkt kommt, wo man dann so viel aufgegeben, kaputt gemacht und sich wie die Axt im Walde verhalten hat, um seine eigene Sicherheit zu wahren – dass es irgendwann auch nicht mehr zurück geht und ein Entschuldigen nicht mehr möglich ist. Das war dann der Strang des Albums - dass es irgendwann zusammenbricht und man sich dann auch verletzlich zeigen kann.“

Ist denn in dem Sinne der Song „Ein Blick“ der Schlüsseltrack des Albums? Denn hier wird die Problematik des „nicht mehr Zurückkönnens“ mit Zeilen wie „Ein Schatten viel zu groß zum Drüberspringen“ … „Am liebsten würden wir uns selten oder gar nicht sehen“ … „Das Wissen umeinander reicht“ ja nahezu wörtlich ausbuchstabiert.

„Ja genau – ich habe für mich überlegt, dass der Song „Zerquetschte Tomaten“, der dem vorausgeht die Kindheitserinnerung von jemand sein könnte, der gelernt hat, keine Gefühle zu zeigen oder zu empfinden. Und „Ein Blick“ war zunächst eine versteckte Anklage von mir – bis mir die Dimension des Textes klar wurde, der ja für alle stehen kann, die sich angegriffen und ausgegrenzt fühlen. Das ist dann genau richtig, dass das der Wendepunkt des Albums und somit der Schlüsseltrack ist.“

Vielleicht auch deswegen ist „Ein Blick“ dann auch der beste und musikalisch zugänglichste Song des ganzen Albums.

„Oh – ich habe immer Angst, dass mir in ein Paar Jahren der Song einfällt, von dem ich mir die Melodie rausgegriffen habe“, meint Wencke hierzu, „das war aber auch der Song der am meisten Spaß gemacht hat und der am schnellsten fertig war, denn da hat das Lied so krass gesagt, wo es lang gehen sollte.“

Moment mal: Heißt das dann, dass die Musik dann auch vorgibt, wohin die Narrative führt? „Ja“, bestätigt Wencke, „ich versuche das immer mehr zu akzeptieren. Ich kann nicht leugnen, dass ich überlegt habe, dass der Song 'Ein Blick' eigentlich schon zu lang sein könnte – aber er war in der Mitte halt noch nicht auserzählt und den kleinen Wutanfall am Ende des Songs brauchte ich dann noch für mich – auch musikalisch. Entweder lasse mich von der Geschichte leiten – oder aber auch von der Musik. Es gibt ja auch relativ kurze Tracks, die nicht so geeignet sind für Streaming und Radio – aber die waren eben nach zwei Minuten vorbei.“



Was inspiriert Wencke Wollny denn musikalisch?

„Die Inspiration kommt einerseits daher, dass ich mit vielen Bands toure. Da erarbeitet man dann Sachen, von denen man denkt, dass man das selber auch total cool findet“, berichtet Wencke, „eine große Inspiration ist aber auch die, dass ich irgendwann ein Mal Saxophon studiert habe und deswegen nach Musik suche, die nicht nur vier Akkorde hat, sondern die auch mal eine Abzweigung nimmt. Da bin ich manchmal beim Rätselraten, welche Akkorde ich da noch nehmen könnte – aber so, dass es nicht wie ein Brett vor dem Kopf wirkt.“

Wirkt sich das auch auf die Instrumentierung aus?

„Ja, durch meine Vorproduktion entwickelte sich da schon eine Vorliebe für elektronische Beats und Synthesizer“, meint Wencke, „da habe ich das Glück, dass unser Keyboarder Simon Kutzner dann auch immer noch Elemente findet, auf die ich selbst nicht gekommen bin.“

Kommen wir zum Titel des Albums: Was ist denn alles aufgehoben?

„Das ist zum ersten Mal, dass ich einen Albumtitel habe, der nicht auf der Platte vorkommt“, führt Wencke aus, „ich bin morgens aufgewacht und hatte dieses Wort im Kopf. Ich liebe diese Mehrdeutigkeit, denn es kann ja einerseits bedeuten, dass man sich von etwas löst, oder aber auch sich aufgehoben zu fühlen. Es gibt auf dem Album nämlich auch eine Heldenreise zweier Charaktere, die sich aufmachen um sich am Ende aufgehoben zu fühlen. Ich bin dieses mal sehr konzeptionell drangegangen und das Ziel war, sich am Ende aufgehoben zu fühlen – in den Liedern, den Bildern, der Sprache. Ich habe also lange mit dem Wort verbracht und irgendwann war klar, dass es der Titel sein musste.“

Aktuelles Album: Aufgehoben (Backseat / Broken Silence)


Weitere Infos: https://www.karldiegrosse.de/ Foto: Tobias Schütze

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