
Zunächst schien es so, als habe sich der kanadische Musiker Evan Uschenko dazu entschlossen, sein Solo-Projekt Ghost Woman als Spielwiese in Sachen gepflegter Retro-Psychedelia anzulegen – ein Genre, an dem er während seiner Zeit in der Band seines Landsmannes Michael Rault Gefallen gefunden hatte. Nachdem Rault in die USA umzog (und dort heute als Partner von Pearl Charles in Joshua Tree lebt) streckte Evan seine Fühler aber in andere Richtungen aus und traf so schließlich auf die Belgische Drummerin Ille Van Dessel, mit der er dann privat und musikalisch anbandelte, so dass das Projekt 2023 mit der Veröffentlichung der dritten LP „Hindsight is 50/50“ vom Solo-Soundfrickler- zum Power-Duo Projekt in der Tradition von ähnlich agierenden Acts wie den White Stripes oder Blood Red Shoes wurde. Das Zusammenrücken fixierte Evan dann auch dadurch, dass das Projekt heute GHOSTWOMAN heißt (also ohne Trennzeichen und in Großbuchstaben – und wo das möglich ist sogar noch mit einem ®-Symbol versehen wird). War das Album „Hindsight is 50/50“ noch von einer Konsolidierungsphase geprägt, so zeigt sich das neue Album „Welcome To The Civilized World“ als solide Songsammlung, mit der Evan und Ille nicht nur ihre Kompetemz als Live-Performer, sondern auch ihre Fähigkeiten als Songwriter ins Zentrum stellen.
Wichtig ist es für Evan und Ille ohne Plan oder Konzept an die Sache heranzugehen, sondern sich lieber auf das Bauchgefühl zu verlassen. Wie ist denn dann das neue Album entstanden?„Ich weißt nicht“, überlegt Evan, „bei uns passiert viel aus dem Moment heraus. Es ist wie beim Photographieren. Man macht ein Bild von einem Moment – und das ist es dann. Wenn es nicht genug Licht in dem Foto gibt, dann ist das eben so und muss man eben damit leben. So ist das auch bei unserer Musik."
„Weißt Du, wenn Bands mit Konzepten und Plänen arbeiten möchten, dann ist das vollkommen in Ordnung“, ergänzt Ille, „bis jetzt hatten wir aber noch nie das Bedürfnis so etwas zu machen. Vielleicht machen wir ja in 10 Jahren mal ein Konzept-Album – wir werden da niemals nie sagen – aber im Moment funktioniert es für uns auf diese Weise am Besten. Wir versuchen einfach, nichts zu stark zu durchdenken.“
Evan hat dann noch eine Bemerkung parat:
„Ich denke das Leben ist das Konzept für uns“, führt er aus, „was immer gerade in unserem Leben passiert, ist dann die Quelle für unser Songwriting.“
Ille ergänzt diese Beobachtung:
„Wir haben die neuen Songs zwischen unseren Touren geschrieben. Wir haben dann immer kleine Stops an verschiedenen Orten eingelegt und dabei sehr viele inspirierende Erfahrungen gemacht. Unbewusst nutzt man dann diese Inspirationen. Das mag dann keine tiefere Bedeutung haben, aber es beeinflusst den Sound. Wenn wir zum Beispiel ein Jahr lang in Japan unterwegs gewesen wären, dann würde das Album vollkommen anders klingen.“
In der aktuellen Bio werden GHOSTWOMAN gar mit der Tagline zitiert:
„Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, dass dieses Album existieren sollte“. Evan hat dafür aber eine Erklärung: „Also eigentlich mögen wir es nicht, Bios oder so etwas zu schreiben. Ich weiß dann nie, was ich sagen soll. Da ist dann eben diese Zeile rausgerutscht.“
Auch Ille hat ihre Meinung dazu:
„Ich denke, wir haben das gar nicht wörtlich gesagt. Aber man wird ja immer gefragt, wovon das neue Werk handelt. Es handelt aber eigentlich von gar nichts. Wir machen einfach zusammen Musik, weil wir das mögen. Das ist unsere Art, mit dem Leben umzugehen – aber es bedeutet weiter nichts.“
Außer vielleicht, dass es da keinen Masterplan gab?
„Genau“, bestätigt Evan. „wenn wir Songs schreiben, dann setzen wir uns hin und schauen, was passiert. Wenn das für unsere Ohren interessant klingt, dann ist das so – und wenn nicht, dann nicht. Was wir aber nie machen, ist uns hinzusetzen und zu versuchen, einen Song zu machen, der nach diesem und jenem klingen soll. Das ist vielleicht das, was wir mit der Aussage, dass es keinen Grund für dieses Album gäbe, zum Ausdruck bringen wollten.“
Bedeutet das unter dem Strich dann, dass man sich als Hörer dann am besten selbst ein Bild von dem Album machen sollte?
„Ja, das ist ja einer der Gründe warum wir Musik machen“, erläutert Evan, „es ist ja gerade interessant, wenn uns ein Hörer seine Meinung zu einem Song offenbart. Denn manchmal wissen wir selbst erst ein Jahr später, wovon ein Song handelt. Wenn jemand eine Meinung hat – dann her damit. Wir haben schon Rückmeldungen bekommen, dass dieser und jener Song jemandem durch eine schwere Zeit geholfen habe. Auch wenn ich selbst das nicht so gesehen haben mag – wenn dem so ist, dann bin ich glücklich mit dieser Einschätzung – also so lange es nichts Negatives ist.“
Was bedeutet die Musik denn als solche für GHOSTWOMAN?
„Also für mich ist das die Leitlinie für mein Leben“, versucht Ille das in Worte zu fassen, „Musik ist etwas an dem ich immer interessiert war und zu dem ich mich hingezogen gefühlt habe. Musik ist für mich auch eine interessante Art der Kommunikation. Wenn man zum Beispiel jemanden trifft und ins Gespräch kommt und dann feststellt, dass man dieselbe Art von Musik mag. So habe ich übrigens auch Evan getroffen. Wir haben uns stundenlang über Musik unterhalten und hatten dann gleich dieses Gefühl von 'wir gegen die Welt'.“
„Und auch wenn wir uns nicht über Musikstile unterhalten, dann haben wir doch etwas Verbindendes“, ergänzt Evan, „Musik ist etwas, was die Menschen eher zusammenbringt als entzweit. Ich bin mit Musik aufgewachsen und ständig damit in Verbindung gewesen, das war für mich immer wichtiger als andere Dinge wie z.B. Fernsehen. Ich habe auch als Musiklehrer gearbeitet und dabei gelernt, das Musik eine universelle Sprache ist. Wenn man verschiedene Musikkulturen kennenlernt, dann erfährt man auch viel über Menschen. Ich bin sehr fasziniert von dem Musikhistoriker Alan Lomax (der in den 30er Jahren Aufnahmen von Folksongs machte). Wenn man verschiedene Musikstile studiert, dann erfährt man auch über die Herkunft der Menschen, die diese Musik gemacht haben und wo diese herkommen. Musik ist wie eine Straßenkarte und Musik ist das Nervensystem der Welt.“
Das hört sich ja geradezu spirituell an. „Ja, damit kommen wir wieder auf Alan Lomax“, führt Evan aus, „er hat diese alten Spirituals studiert. Und ja: Musik ist eine spirituelle Sache. Schon als ich Musik lehrte, realisierte ich, dass ich den Menschen nur soundsoviel auf einer logischen Ebene zeigen beibringen konnte – und dann kam dieses ganze andere Universum hinzu. Ich kann das gar nicht erklären – das ist wie der Blues. Oder nimm diese ganze indische Musik, wo es all diese Halbtöne gibt, die eigentlich gar nicht da sein sollten. Es gibt sie aber, weil die Menschen, die diese Musik hören, das auf eine gewisse Art und Weise tun möchten. Es ist dann wie eine eigene Sprache.“
Was will uns denn der Titel 'Welcome To The Civilized World' sagen?
„Der Titeltrack des Albums entstand in einer ziemlich durchzechten Nacht, wo wir einfach vor uns hinspielten, bis es unserer Meinung nach gut klang“, berichtet Ille, „das war alles ziemlich spontan und wir hätten das noch ein paar mal aufnehmen können – aber dann hätte es seinen Charme verloren. Wir haben da einen Kunstdruck in unserem Wohnzimmer in Belgien, das aussagt 'Welcome To The Civilized World – A Place To Have A Brain' und wir haben uns immer gesagt: 'Toll – da müssen wir mal hin'. Wir wollten den Titel dann eigentlich erst später verwenden – aber mit dem ganzen Mist der in der Welt gerade vor sich geht, fühlte es sich jetzt richtig an. Das hat dann natürlich einen sarkastischen Unterton – aber auch das hat sich für uns einfach richtig angefühlt. Wir sind natürlich keine politische Band – aber vielleicht ist das ja auch einfach unsere Art auszudrücken, dass wir alle erledigt sind.“
Aktuelles Album: Welcome To The Civilized World (Full Time Hobby) VÖ: 05.09.
Weitere Infos: https://ghost-woman.com/ Foto: Andrin Fretz