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BETTINA WILPERT

Herumtreiberinnen

BETTINA WILPERT

(Verbrecher Verlag, 265 S., 25,00 Euro)

Natürlich kann die mit ihrem Erstling "nichts, was uns passiert" zu einiger Berühmtheit gelangte Wahl-Leipzigerin Wilpert in ihrem neuen Roman aus mindestens zwei Gründen nicht auf selbst gemachte Erfahrungen zurückgreifen. Denn zum einen ist sie mit Anfang 30 zu jung, um in den 80ern in einer DDR-"Tripperburg" interniert gewesen zu sein und für Erlebnisse im Nazi-Gefängnis der 40er erst recht. Noch dazu ist sie nicht in Leipzig, sondern in der Nähe von Altötting aufgewachsen, kann also die Geschichte des Gebäudekomplexes in der "Lerchenstraße" auch nicht aus Familienerzählungen kennen. Aber was heißt das schon – man muss ja nicht unbedingt dabei gewesen sein, um etwas packend beschreiben zu können. Warum Wilpert den fiktiven Namen "Lerchenstraße" verwendet, bleibt unklar; belegt ist hingegen, dass das Gelände in Stötteritz schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts zur "Verwahrung" missliebiger Mitbürger(innen) genutzt wurde. In der DDR war Leipzig-Thonberg dann eine jener gefürchteten "Geschlossenen Venerologischen Stationen" (in Halle/S. lag eine solche direkt hinter dem Marktplatz – heute erinnert dort zumindest eine Gedenktafel an das Geschehene). Und in diese "Tripperburg" wird Manja gebracht. Warum? Weil die aufmerksamen Volkspolizisten sie bei ihrem Freund im Wohnheimbett erwischt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Manuel "Vertragsarbeiter" ist – der Mosambikaner schuftet in der Lindenauer Spinnerei (also dort, wo heute all diese hippen Kunstgalerien residieren). Und wenn ein "deutsches Mädchen" sich mit "so einem" einlässt, kann es sich – Völkerfreundschaft hin oder her! - doch nur um eine HwG-Person handeln. HwG = häufig wechselnde Geschlechtspartner, so poetisch-verklemmt umschrieben die DDR-Aufpasser es, wenn sie Prostitution vermuteten. Und weil sie mit ihrer Freundin Maxie (auch so eine mit einem afrikanischen Freund!) gelegentlich die Schule schwänzte oder gar in baufällige Gartenlauben einbrach, beschloss die fürsorgliche Staatsmacht, dass es bei Manja Zeit für einige Erziehungsmaßnahmen in Richtung "Sozialistische Persönlichkeit" ist. Die unwürdigen, selbst in der DDR umstrittenen Verhältnisse in der GVS schildert Wilpert sehr eindringlich: die herabwürdigenden und schmerzhaften medizinischen Untersuchungen, den mal subtilen, mal ganz körperlichen Terror der "Stubenältesten", die Disziplinierungsmaßnahmen (eine Nacht "auf dem Hocker" heilt Aufsässigkeit schnell), die (gegenseitige) Bespitzelung. Gleich nach ihrer Einlieferung wird wegen ausbleibender Infektionsnachweise mit fieberauslösenden Mitteln nachgeholfen, irgendwo werden die Gonokokken schon sitzen! Kurz – es ist furchtbar, was der vollkommen Unschuldigen widerfährt. Ähnlich die parallel erzählte Geschichte von Lilo, die in den 40ern für ihren kommunistischen Vater Flugblätter tippt und im Leipziger Umland Botengänge unternimmt - bis ihnen die die Gestapo auf die Spur kommt. Auch Lilo landet in den seinerzeit als Frauengefängnis genutzten Backsteinbauten der "Lerchenstraße". Und in den 2010ern ist Robin in eben diesen Häusern Sozialarbeiterin. Sie hilft Geflüchteten, die der in solchen Dingen wenig sensible sächsische Beamtenapparat in den vorbelasteten Räumlichkeiten untergebracht hat. Interessant ist, wie es Wilpert schon durch feine Nuancierungen der Erzähltechnik und der Ausdrucksweise gelingt, die Zeitebenen zu differenzieren. Hier Manjas beinahe naives Staunen über die (Eigen)Dynamik der Ereignisse, ihre Scham und die durch Ungerechtigkeiten induzierte Wut, dort der Stolz Lilos, die endlich ihrem Vater beweisen kann, dass auch sie Widerstand zu leisten vermag – verglichen mit diesen Schicksalen wirkt Robins Kampf mit Alltagsproblemen und Bürokraten beinahe unspektakulär. Man mag an diesem oder jenem Detail herumkritteln, unterm Strich ist "Herumtreiberinnen" aber ein sowohl thematisch wie literarisch wirklich gelungenes Werk.
Weitere Infos: › www.verbrecherverlag.de/book/detail/1077

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