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CHRIS BROKAW

"Ich kann nicht aufhören, an diese Gitarre zu denken"

CHRIS BROKAW

Zwischen unwirklich und unheimlich: Auf seinem neuen Soloalbum ´Ghost Ship´ hüllt Chris Brokaw das allgemeine Gefühl des Unbehagens, das derzeit viele Menschen ob des alltäglichen Wahnsinns umgibt, in effektbeladene, in viel Reverb getauchte Gitarrensongs, die, einschmeichelnd sanft und beunruhigend zugleich, sein bahnbrechendes Schaffen mit den Slowcore-Helden Codeine widerhallen lassen und doch einzigartig klingen.

´Ghost Ship´ ist nicht nur eine ungewöhnliche Platte, das Album hat auch eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Die Initialzündung für die LP lieferten die Begegnung mit einem belgischen Gitarrenbauer und eine Teisco-Del-Ray-Gitarre mit einem unorthodoxen Set-up:

"Mein Freund Elisha von Martha's Vineyard Ferries brachte mich mit einem Gitarrenbauer namens Flip Scipio zusammen", erinnert sich Brokaw im WESTZEIT-Interview. "Flip hatte diese cool aussehende Teisco, die ein ungewöhnliches Set-up hatte, mit dicken Flatwound-Saiten und einer auf A heruntergestimmten 80er E-Saite. Ich spielte die Gitarre fünf oder zehn Minuten lang, gleichermaßen verwirrt und neugierig. Etwa ein Jahr später schrieb ich Flip und sagte: 'Ich kann nicht aufhören, an diese Gitarre zu denken', und er erklärte sich bereit, mir eine solche Gitarre zu verkaufen, mit genau diesen Einstellungen. Ich war mir eine Zeit lang nicht sicher, was ich damit anfangen sollte (außer wieder und wieder ´Besame Mucho´ in c-Moll zu spielen), aber dann schloss ich sie an ein paar Hall- und Delay-Pedale an und drehte die Tonregler auf null, was den Sound wirklich unter Wasser gehen ließ, und ich dachte: 'Hier!' Ich wollte da dranbleiben und ein paar Songs entwickeln. Das Album habe ich dann für meine Maßstäbe ziemlich schnell, innerhalb von zwei Monaten geschrieben."

Über das durch Jazz-Legende John McLaughlin inspirierte Tuning sagt Brokaw im Presseinfo zu ´Ghost Ship´, dass es "die Art und Weise, wie man das Instrument spielt, neu definiert" – und wenngleich die Songs immer noch spürbar Brokaws Handschrift tragen, fällt tatsächlich sofort auf, dass er sich hier außerhalb seiner üblichen Bahnen bewegt. "Das Set-up zwang mich, anders zu spielen und zu schreiben", erklärt er. "Es gibt mir auch die Möglichkeit, mich selbst in Echtzeit am Bass zu begleiten, wenn man so will. Ich habe während der Pandemie angefangen, Bass zu spielen, also gab es da so etwas wie einen vorgezeichneten Weg."

´Ghost Ship´ ist selbst für Brokaws Verhältnisse eine außergewöhnliche Platte: Denn auch wenn der inzwischen 60-jährige, in Cambridge, Massachusetts, heimische Musiker selbst das Album als Songwriter-Platte sieht, darf man sich beim Hören doch einbilden, dass hier sein Faible für experimentelle Instrumentals im Ambient-Dunstkreis, wie sie zuletzt vor zwei Jahren auf dem Album ´Live At The Decommissioned Power Station´ zu hören waren, mit seiner Liebe zu songwriterischer Direktheit, die auf dem 2021er-Rock-Album ´Puritan´ die Richtung vorgegeben hatte, auf eine Art und Weise zusammenfließen, wie man das auf seinen mehr als einem Dutzend Solowerken noch nicht gehört hat.

Inhaltlich sind die neun Songs des Albums eher persönlich gefärbt, wie Brokaw mit Blick auf den Albumtitel erklärt:

"Ein Geisterschiff ist ein Schiff ohne Besatzung, das ewig um die Welt kreist. Ich fing an, mich wie ein solches zu fühlen: Als ob ich schon sehr lange gelebt hätte und nicht wüsste, was ich als Nächstes tun sollte oder wohin ich als Nächstes gehen sollte – und als ob ich eine Menge Geister mit mir herumtrage, von Menschen, die nicht mehr unter uns sind, und Menschen, die nicht mehr Teil meines Lebens sind."

Um das auch stimmlich adäquat abzubilden, hat Brokaw die Idee eines Unter-Wasser-Klangkosmos auch auf den Gesang übertragen.

"Das bedeutete, dass ich einige der Wörter und Silben wirklich in die Länge ziehen konnte", verrät er. "Es ist wirklich angenehm für mich, mit Hall und Delay zu singen. Die Abmischung war schwierig – man sollte glauben, eine Platte wie diese zu machen sei einfach, aber das Gegenteil war der Fall, auch, weil ich bisweilen nach widersprüchlichen Dingen gesucht habe: eine Unschärfe einerseits und eine Klarheit und Dreidimensionalität andererseits."

Brokaw hat den Sound der Platte bereits durchaus treffend mit den Vibes von ´Twin Peaks´ verglichen, doch was genau repräsentiert diese unwirkliche Stimmung für ihn – besonders in den unruhigen Zeiten, in denen wir leben?

"Das war einfach intuitiv, wie all meine Musik", erwidert er. "Es ist schlicht das, was ich im Moment machen wollte. Ich denke, dass die Texte einiger Songs ziemlich aktuell sind, denn natürlich geht mir der Lauf der Dinge in der Welt nahe, aber ich habe nicht versucht, ein Statement zu 2025 abzuliefern."

Aktuelles Album: Ghost Ship (12XU)


Weitere Infos: www.chrisbrokaw.com Foto: Ben Stas

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