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TOMEKA REID

Zufluchtsort Musik

TOMEKA REID

Stets auf der Suche nach dem Besonderen: Wie niemand sonst hat Tomeka Reid in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass das Cello als Instrument für Jazz und Improvisation in den Fokus gerückt ist. Mit ihrer allumfassenden Musik reißt die in Chicago heimische Ausnahmemusikerin immer wieder furchtlos Genregrenzen ein und konnte für ihr wegweisendes Schaffen im Spannungsfeld von kompositorischer Struktur und spontaner Experimentierfreude neben vielen anderen Preisen zuletzt eine der höchstdotierten Auszeichnungen der Welt, die MacArthur Genius Fellowship, und Lobenshymnen in der New York Times ("a New Jazz Power Source") einheimsen. Im Februar kommt sie mit dem Tomeka Reid Quartet auf Tournee nach Deutschland.

Fragt man Tomeka Reid, welche Rolle die Musik in ihrem Leben spielt, muss die 47-jährige Amerikanerin nicht lange überlegen.

"Ich bin sehr glücklich, die Musik in meinem Leben zu haben, noch nicht einmal die Musik speziell, aber eine Routine, die dir eine Perspektive gibt und dir hilft, dein Leben zu organisieren und Ziele zu haben", sagt sie bei unserem Treffen nach einem Auftritt im Dortmunder Domicil. "Es gibt derzeit so viele Dinge, über die man sich aufregen kann, und ein Instrument zu spielen hilft, deine Energien in eine positive Richtung zu lenken – auch deshalb ist es besonders schade, dass so viele Kunst- und Musikprojekte an amerikanischen Schulen gestrichen werden, denn sie zielen genau darauf ab. Musik nährt für Herz und Geist – und kann dir am Ende womöglich auch noch helfen, deine Rechnungen zu bezahlen. Musik zu machen ist für mich eine Art von Meditation, besonders wenn es um frei improvisierte Musik geht, denn das verlangt, dass du sehr präsent bist. Manche Menschen nehmen Drogen, und du kannst es ihnen nicht übelnehmen, weil sie lediglich auf der Suche nach einem Zufluchtsort sind. Musik ist mein Zufluchtsort."

Aufgewachsen in Washington D.C. mit nur einem Elternteil in schwierigen Verhältnissen, wurde Reids musikalisches Talent bereits im Grundschulalter entdeckt, aber weil sich ihre Mutter den Unterricht nicht leisten konnte, dauerte es bis zur 10. Klasse, bis sie erstmals Cello-Stunden erhielt. Musikalisch war sie damals noch eher von Elvis Costello, Sonic Youth oder The Cure als von den Giganten des Jazz oder der Klassik inspiriert, bevor sie 1998 durch einen Wohnungstausch mit ihrer Schwester in Chicago landete. Dort lernte sie die Flötistin und Komponistin Nicole Mitchell kennen, die sie an die improvisierte Musik heranführte. Als ihr Musikstudium sie zwei Jahre später zurück nach Chicago verschlug, spielte sie in Mitchells Black Earth Ensemble, und ihr musikalischer Horizont wurde breiter und breiter. Trotzdem dauerte es noch lange, bis sie ihre Schüchternheit und die Angst, nicht gut genug zu sein vollends abgelegt hatte.

"Ich würde sagen, dass ich mich erst seit 2017 wohler fühle", sagte sie letztes Jahr in einem Feature auf der Plattform Bandcamp. "Ich habe einfach weiter gespielt und gespielt. Dabei habe ich auch erkannt, was ich an kollektiver Improvisation liebe: Es geht nicht nur um eine Person, sondern wirklich um das Kollektiv. Alle arbeiten zusammen, um einen schönen musikalischen Moment zu schaffen. Ich glaube, dieser Perspektivwechsel hat mir geholfen zu erkennen, dass ich Teil von etwas bin, das größer ist als ich selbst."

Wie sich das anhört, wenn Reid dieses Credo in die Tat umsetzt, konnte man zuletzt auch besonders oft in Deutschland erleben: Als "Improviser In Residence" des Moers Festivals war sie 2022 trotz vieler Pandemie-bedingter Einschränkungen bisweilen fast wöchentlich in immer wieder neuen Konstellationen auf den Bühnen ihrer Gastgeberstadt (und darüber hinaus) zu sehen und begeisterte nicht nur mit ihren sagenhaften Fähigkeiten an ihrem Instrument und dem unbändigen Willen, sich über Grenzen und Konventionen hinwegzusetzen, sondern setzte auch immer wieder auf sympathischen Bescheidenheit und stellte sich so in der Tat stets in den Dienst des Ensembles, in den Dienst der Musik und zeigte sich auch abseits der Bühne als zugänglicher Superstar zum Anfassen.

Nur eines scheint Reid nicht zu beherrschen: das Stillstehen. Allein im vergangenen Jahr stand sie als Teil von Myra Melfords All-Star-Ensemble Fire And Water Quintet auf der Bühne, begleitete Dave Douglas auf seiner letzten Tournee, feierte mit einer von den Werken Duke Ellingtons inspirierten Auftragsarbeit in Berlin und New York Premiere und faszinierte mit Artifacts, dem Chicagoer Trio, in dem sie sich an der Seite von Drummer Mike Reed und ihrer früheren Mentorin Nicole Mitchell im Umfeld der einflussreichen Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) tummelt.

Im Februar steht sie nun bei Konzerten in Essen, Singen und Gschwend mit der Band auf der Bühne, die inzwischen das Herzstück ihres künstlerischen Tuns ist, dem Tomeka Reid Quartet. Ursprünglich als Kollaboration mit Bassist Joshua Abrams und Gitarrist Matt Schneider gestartet, stehen Reid nun Gitarristin Mary Halvorson, Bassist Jason Roebke und Drummer Tomas Fujiwara zur Seite, die gemeinsam auf inzwischen drei vielbeachteten Alben nicht nur musikalisch brillieren, sondern mit dezenter Zurückhaltung auch für das perfekte Umfeld sorgen, um Reids klangliche Visionen besonders hell erstrahlen zu lassen. So ist das aktuelle Album der vier Musikerinnen und Musiker,´3+3´, in den US-Medien bereits treffend als "großartige Tour de Force, bei der Improvisationen und einige stimulierende elektronische Elemente mit dem lebendigen Zusammenspiel der Band im Verlauf von drei suiteartigen Kompositionen vermischt werden" beschrieben worden.

Zusammen begeben sich Reid und die Ihren auf dem Album in das Spannungsfeld aus freigeistiger Spontaneität und präziser Perfektion, wobei es Reid besonders wichtig war, sich nicht von Konventionen einengen zu lassen und sich beim Entdecken der Möglichkeiten überraschen zu lassen.

"Weil ich so viel freie Improvisation mache, hatte ich den Wunsch, das auch stärker in die Arbeit an der Platte einfließen zu lassen", erklärt sie. "Bei früheren Platten hatte ich stets das Gefühl, dann man zum Beispiel eine Blues-Nummer dabeihaben und bestimmte Formen einschließen muss. Auf dem neuen Album wollte ich so spielen, als stünden wir auf einer Bühne. Manchen Leuten, die eher das groovy Zeug mögen, mögen die Stücke vielleicht zu seltsam vorkommen, aber ich mache das eine wie das andere, und deshalb wollte ich dieses Mal auf eine Trennung verzichten und beides zusammenbringen."

Glücklich macht sie heute vor allem die Chance, auch weiterhin viele verschiedene Projekte verfolgen zu können und sich an den kleinen und großen Meilensteinen entlang des Weges zu erfreuen wie etwa die ersten Gastspiele ihres Quartetts in Japan im letzten Sommer oder die Auftritte des Tomeka Reid Stringtet, dem 17-köpfigen Kammerorchester, mit dem sie dem Geist der improvisierten Musik in Chicago, New York und darüber hinaus nachspürt.

"Ich habe es sogar geschafft, in Ägypten Urlaub zu machen", sagt sie lachend und selbst ein bisschen verwundert zum Abschluss. "An das letzte Jahr werde ich noch lange zurückdenken!"

Aktuelles Album: 3+3 (Cuneiform Records)


Weitere Infos: tomekareid.com

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