
Schon alleine der Umstand, dass die offizielle Bio 'Humanhood“, das neue Album von The Weather Station als, das „seltsamste“ Werk von Tamara Lindeman und ihren Musikern auslobt, macht deutlich, wie schwierig es ist, die Musik der kanadischen Künstlerin zu kategorisieren, zu erfassen, zu begreifen und besonders in Worte zu fassen. Seit Tamara mit dem Album „Ignorance“ 2021 – mitten in der Pandemie – in einem radikalen kreativen Schritt ihre bis dahin immer noch konventionell ausgerichtete Musik mit einer stilistischen Ausweitung auf eine neue musikalische Basis stellte, gibt es offensichtlich kein Halten mehr. Nicht nur, dass das neue Sounddesign plötzlich in aller Munde war – und anerkennend von Kollegen emuliert wurde – es ermöglichte Tamara auch ganz neue songwriterische, strukturelle und musikalische Perspektiven, wie schon das Partneralbum „How Is It That I Should Look At The Stars“ zeigte. Auf ihrem nun vorliegenden, siebten Album „Humanhood“ setzt Tamara nun ganz auf die kollaborative Improvisation mit ihren Musikern, legt Wert darauf festzuhalten, dass die neue Scheibe von den Musikern gemeinsam erarbeitet wurde und sucht zugleich nach einer Möglichkeit, das zuletzt gefundene Sounddesign über die Auflösung konventioneller Strukturen erneut auf ein neues Level zu hieven.
Fangen wir mal mit dem Äußerlichen an – dem Cover-Motiv. Es zeigt Tamara Lindeman auf Tüchern sitzend, die Fotos von ihr selbst zeigen und über einer Steinformation ausgebreitet sind, wodurch alles ziemlich verzerrt und in Auflösung dargestellt wird. Für ihre letzten Projekte trug Tamara einen Anzug, der mit Spiegel-Fragmenten besetzt war. Das Spiegeln – entweder scharf abgegrenzt oder perspektivisch verformt – scheint ihr also am Herzen zu liegen. Inwieweit hängt das zusammen und in welchem Zusammenhang steht das mit der Musik des neuen Albums – vielleicht die Auflösung von Formen und Formaten betreffend?„Absolut“, meint Tamara mit einem gewissen Nachdruck, „der Spiegel-Anzug war schon sehr reichhaltig für mich – und dieses Motiv ist es auch. Der Fotograf, mit dem ich arbeite – Rich Burke – macht so etwas schon sehr lange. Er arbeitet schon seit 10 oder12 Jahren mit bedruckten Stoffen. Ich habe ihn also angesprochen, weil er sich sowieso schon auf diesem Pfad befand. Es hat aber eine ganze Weile gedauert, bis wir eine Möglichkeit gefunden hatten, die Tücher richtig anzuwenden. Es ist immer interessant, wenn man etwas mit einer bestimmten Absicht angeht – und dann passiert etwas ganz anderes, was aber sogar noch besser ist. Für mich entspringt das aus einem verzerrten Sinn der Narrative oder Identität. Es gibt da eine Art von Energie, mit der ich die verschiedenen Elemente in der Mitte zusammenziehe, um sie zu verstehen und zu beobachten, wie alles sich verformt und sich kräuselt. Das ist ein Motiv, mit dem ich schon lange herumspiele. Auf der Scheibe taucht das Thema der Auflösung dann auch mehrfach auf.“
Das betrifft auch die Stücke selbst, die manchmal ganz ohne Struktur auskommen, zuweilen mit konventionellen Elementen wie Strophen, Melodien und Refrains arbeiten und oft genug auch aufgelöst und wieder zusammengesetzt werden. Geht es auf der Scheibe denn nun eher um die Auflösung oder das Zusammenziehen von Elementen?
„Mmh – das ist interessant“, meint Tamara, „aber es ist beides. Ich denke auf der Scheibe geht es vor allen Dingen darum, die Zeit zu begreifen und Erfahrungen zu verstehen, die das Leben bereit hält – eben die Bestandteile, die in der Summe das Menschliche ausmachen. Ich versuche also schon, Dinge zusammenzuziehen. In dem Song 'Sewing' geht es ja zum Beispiel sogar darum, etwas zusammenzunähen. Wenn ich aber versuche, alles zusammenzufassen, dann muss ich auch einräumen, dass es da auch einen Erzählstrang gibt, bei dem alles auseinander fällt und alles desintegriert ist. Aber dann muss ich einen Weg finden, alles wieder zusammenzusetzen, um dann nach vorne blicken zu können."
Das Thema der Scheibe ist ja die Menschlichkeit als solche. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen „Humanhood“ und „Humanitiy“?
„Hmmm das ist eine interessante und gute Frage“; zögert Tamara, „denn ich denke, 'Humanity' ist eine universellere Sache. Wenn ich also 'Humanity' sage, dann denke ich an die gesamte Menschheit. 'Humanhood' fühlt sich hingegen individueller an – so als sagte ich 'meine Kindheit' oder 'mein Frau-Sein'. Ich liebe 'Humanhood' deswegen, weil es zwar ein universelles Wort ist, das aber eine individuelle Note hat, die sehr persönlich sein kann. Interessant ist, dass 'Humanhood' – anders als etwa 'Teenagehood' - ja kein Ende hat. Ich habe mich gefühlt, als sei ich auf einen Edelstein gestoßen, als ich über dieses Wort gestolpert bin. Es ist ja ein faktisch existierendes Wort, dass aber niemand so richtig verwendet – weswegen es sich frisch und unverbraucht anhört."
Gehört Tamara dann nicht auch zu jenen Musikerinnen, die mittels ihrer Musik ihr Leben verarbeiten?
„Unglücklicherweise ja“, gesteht sie, „ich habe festgestellt, dass meine Songs oft aus meinem Unterbewusstsein entspringen und ich gar nicht weiß, was sie bedeuten oder worum es geht, wenn sie sich mir offenbaren - oder ob sie wichtig sind oder nicht. Manchmal schreibe ich einen Song, der mir erst offenbart, was gerade passiert. Manchmal blicke ich auf ältere Aufnahmen zurück und erkenne, dass ein Song mir etwas in Echtzeit zeigen wollte, was ich nicht hatte sehen wollen. Manchmal können Songs auf diese Weise etwas vorausahnen."
Das ist ja auch bei Träumen der Fall. Verwendet Tamara vielleicht auch Traum-Themen oder -Bilder für ihre Songs?
„Nein eigentlich nicht. Es sind mehr Bilder aus dem Unterbewusstsein, die ich für meine Songs verwende“, führt Tamara aus, „allerdings sind Musikvideos für mich wie Träume. Auch die Videos anderer Leute, aber auch meine. Denn da gibt es oft so eine Art Traumlogik.“
Hat sich für Tamara der thematische Kreislauf für dieses Album denn nun geschlossen – oder wird es (wie bei dem letzten Projekt) als nächstes wieder ein Addendum in Form einer Scheibe anschließen, auf der weitere offene Punkte – dieses Mal zum Thema „Humanhood“ behandelt werden?
„Das ist insofern eine gute Frage, als dass wir eine Menge zusätzlicher Songs eingespielt haben“, offenbart Tamara, „ich fände es schade, wenn diese niemals erscheinen würden. Ich muss mir aber noch überlegen, ob es einen Teil II von 'Humanhood' geben wird oder eine Deluxe-Edition mit dem restlichen Material. Das hängt natürlich auch davon ab, was die Leute mögen und wollen. Ich habe schon darüber nachgedacht, in welche Richtung ich als nächstes gehen sollte oder ob das jetzt der Sound der Gegenwart ist. Eine Antwort habe ich aber noch gefunden.“
Aktuelles Album: Humanhood (Fat Possum Records)
Weitere Infos: https://www.theweatherstation.net/ Foto: Brandon George Ko