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QUICKSILVER

V.A.

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Wir beginnen heute mal mit der randvollen Schublade "Frauen singen zu sanften elektronischen soundscapes" - mal hauchend-hauntologisch, mal sensibel-sentimental, mal ätherisch-forschend (gehen mir doch tatsächlich die Stabreime aus!), mal als Gespenster-Downtempo-Pop (jetzt fehlen mir sogar die Adjektive! Beenden wir das klägliche Sprachspiel also lieber.).
Mit einer wirklich sehr gelungenen, von einem wundervollen dunklen Gesang (der mich sofort an Masha Qrellas Brasch-Vertonungen denken ließ) geprägten und gänzlich ohne wirkliches Pianospiel auskommenden "Klavierskizze" beginnt das Album "Navel" (Haldern Pop) von der aus dem eher Jazz-orientierten Projekt Mamsell Zazou hervorgegangenen Berliner Band HOPE. Die Stimme gehört Christine Börsch-Supan und kann sich auch über die restliche Spielzeit in aller gebotenen Ruhe (und Entspanntheit) auf einem weichen Bett aus MoogSounds, diversen anderen Elektronika, Gitarren und elaboriertem Schlagzeug räkeln. Vor 20 Jahren hätte man dazu wohl "TripHop" gesagt, hier und heute versehen wir das mal mit dem oben annoncierten Etikett "sensibel-sentimental". 5
KIKI BOHEMIA hingegen vermag mich nicht so recht zu kicken (Hallo nach Kalau!). Ihre eher dünne Stimme versinkt auf "Those Are Not Songs" (blankrecords) mal zwischen spitzen GitarrenRiffs (Mundane), mal wird sie von verwunschenen ElektroSounds umspült (Lonely People). Und ganz oft versucht sie sich – leider mit begrenztem Erfolg - an etwas, das ich eingangs als "hauchend-hauntologisch" angekündigt habe. 3
LOST GIRLS heißt das Projekt, das die geniale Jenny Hval gemeinsam mit den Gitarristen Håvard Volden entworfen hat. Ihre CD nennen die beiden "Selvutsletter" (Smalltown Supersound) - was die Band selbst als "self-effacer: Someone who tries to erase themselves. Someone who is cleaning out themselves. Performing exorcism." umschreibt und das Internet schlicht mit "selbstzerstörerisch" übersetzt (ich überlege wirklich, im hohen Alter noch Norwegisch zu lernen!). Kennt man die eher experimentelle Vergangenheit der beiden (und – wie ich – das 21er Lost Girls-Debut "Menneskekollektivet" nicht), verwundert der luftige Sound aus klaren old school-ComputerRhythmen, in einer freundlichen SynthUmgebung gern mit etwas melodiegebendem BassGitarrenSpiel garniert, vielleicht ein wenig - ebenso die jungmädchenhafte Gesangsdarbietung. Aber hinter Hvals feenhaft-sphärischen Wispern und den hier und da dezent jubelnden Gitarren verbirgt sich oft auch ein dunkel leuchtendes Element. Die zugehörige UnterSchublade ist hier natürlich mit "ätherisch-forschend" beschriftet. 4
NIECY BLUES gibt uns dankenswerter Weise den GenderHinweis "she/they" mit auf den Weg, so dass wir die auf "Exit Simulation" (Kranky) zu hörende Mischung aus düsteren SynthWänden, Vogelstimmen und Menschengeschrei, aus zarten KeyboardLinien und depressiven E-Bass-Figuren sowie offenbar bei einer Gospel-Messe Mitgeschnittenem ("U Care" z.B. bringt all das – und vielleicht noch viel mehr - wirklich unter einen passenden Hut) mit einer aus South Carolina stammenden Musikerin verbinden können. Andere Stücke ließen sich als DarkAmbientAntiR’n’B oder ShoegazePostRock beschreiben. Oder eben – siehe oben - als "Gespenster-Downtempo-Pop". 4
Hat da jemand gerade Shoegaze gesagt? Für den hätte ich mit "Gut Punch"(Mansions and Millions) von den US-Berlinern MEAGRE MARTIN eine hörenswerte Empfehlung. DreamPop rules: perlende Gitarren (die sich mit entsprechender Verzerrung aber auch gern mal wandhoch auftürmen), zischende AnalogDrumMachines (als Kontrast zum fein austarierten Schlagzeug), solide BassArbeit und natürlich der elfengleiche, dennoch seltsam packende Gesang von Sarah Martin verbinden sich zu einem feinen kleinen Stück ZartbitterSchokoladenMusik. Anspieltip: "All My Thoughts"! 4
Wer Meagre Martin mag, kann wahrscheinlich auch mit dem zwar musikalisch ganz anders gelagerten, emotional aber ähnlich aufgeladenen CroonerNoiseBlues wie ihn CRIME & THE CITY SOLUTION schon immer, auf ihrem neuesten Album (dem ersten nach 10 Jahren Pause) namens "The Killer" (Mute) aber mit besonderer Inbrunst spielen, etwas anfangen. Dramatische GitarrenAkkorde treffen auf nicht minder erhebende Streicher und ein von zarten elektronischen Effekten umspieltes Schlagzeug, dazu schmachtet Simon Bonney wie sonst wohl nur Nick Cave. Der Grundstock des "Killers" entstand übrigens, als Bonney während des Corona-Lockdowns aus lauter Langeweile mit einer Doktorarbeit (oder was auch immer heute einem PhD entsprechen mag) begann. Die ganze Entstehungsgeschichte ist zu kompliziert und komplex, um hier nacherzählt zu werden, am Ende war das musikalische Element jedenfalls stärker und schwups wurde aus der Dissertation ein Album. Zum Glück, denn "The Killer" darf durchaus als kleines Meisterwerk bezeichnet werden. 5
Etwas weniger sensibel, eher so 1-2-3-los!-mäßig sind die aus den Kellern von Cincinnati aufgetauchten THE SERFS unterwegs. Wer sich an den IndustrialPop von Throbbing Gristles "Hot On The Heels Of Love" erinnern kann und vielleicht noch eine Prise dystopischen New Waves dazu streut, ist schon ziemlich dicht am Sound von "Half Eaten By Dogs" (Trouble In Mind) – übrigens eine Situation, die mir gleich mehrfach unschön scheint, denn zum einen ist VomHundGefressenWerden wohl eher was für ganz spezielle Liebhaber und zum anderen erscheint mir Halb-VomHundGefressenWerden doch auch irgendwo Verschwendung zu sein, oder? Jedenfalls ist z.B. "The Dice Man will Become" ein lupenreiner Joy Division-rip-off und die Cabaret Voltaire-Bezüge kann man gar nicht alle aufzählen. Nervös, verzerrt, elektr(on)isch - man kann sich natürlich auch die Originale von damals anhören, denn so richtig viel Neues haben The Serfs nicht beizusteuern. Aber selbstverständlich darf man derlei Musik heute noch spielen, hier und da muss man es vielleicht sogar. Ob allerdings eine Veröffentlichung wirklich nötig ist, lassen wir mal dahin gestellt. 4
Eine strengere und auch innovativere Haltung legen da die italienischen SciFi-PostRocker VONNEUMANN an den Tag. Auf "Johnniac" (Ammiratore Omonimo) verbinden sich analoge Drum-Maschinen ohne jede Nostalgie mit antiken Synthies, Distortion-Gitarren spielen mit ModularSystemen und über all dem schwebt gleichermaßen der Geist des Chicagoer PostRocks wie der von armchair-AvantElectronica. Der CD-Titel bezieht sich übrigens auf den "JOHn von Neumann Numerical Integrator and Automatic Computer", der schon 1952 nach jener Rechnerarchitektur arbeitete, von der auch die Band ihren Namen abgeleitet hat. 4
Nun wollen wir aber die Elektro-Abteilung betreten, in der wir mit COH auch gleich einen alten Bekannten treffen. Der schon seit vielen Jahren in Schweden lebende Russe befasst sich auf "Radiant Faults" (Dais) mit einem seltenen Synthesizer, nämlich dem von Johannes Pit Przygodda 2021 nach jahrelanger Entwicklungsarbeit fertiggestellten "Silhouette eins"-System. Damit lassen sich Kamerabilder oder jpg-Dateien in Klänge verwandeln (mit dem Bewegtbild-Format .mov funktioniert’s wohl auch). Der vierstimmige Synthie übersetzt nach einem komplexen Algorithmus den per trackpad gewählten Bildausschnitt in Echtzeit in Audiosignale – ein faszinierender Ansatz, den CoH mit großer Kunstfertigkeit und zugleich enormer Reduktion erkundet. Und weil CoH lange zum engsten Zirkel um die SoundMystiker Coil gehörte, weiß er auch deren "ElpH"-Prinzip einzubringen – der "strahlende Fehler" des (Rechner)Systems als den Klangprozeß gezielt beeinflussende "celestial entity". Abstrakt super, super abstrakt. 5
Es bleibt etwas geisterhaft, denn PIERRE BASTIEN & MICHEL BANABILA veranstalten gemeinsam eine "Baba Soirée" (Pingipung), die aus seltsam verwischten Sounds, klappernder Perkussion, einsamem Tuten und Blasen und anderen Seltsamkeiten besteht und doch irgendwie auch Freundlichkeit atmet. Sie selbst sagen dazu: "It’s not a dance party, nor is it an avant-garde intervention. It’s a soirée - A cultivated evening of sonic alchemy hosted by these two charismatic gentlemen." Stimmt. 4
Mal im chaotischen Elektro(nen)wirbel einer "Doggerland Insectoid Working Party", mal im relaxten DubGroove ("The Radiant Lam Over Ys") oder eben im beatdurchwehten "Memory Palace Of Useless Splendour" – das DEPARTMENT OF WORKS hat seine "Signs & Signals" (Submarine Broadcasting Company) gründlich recherchiert. Important additional facts: bei einigen Stücken ist Hans Castrup mit an Bord, das Covermotiv stammt von einer KI und die "root tracks" der Stücke 1, 9 und 11 hat ein geheimnisvoller Unbekannter unter dem Kampfnamen "Fawkes Mask" beigesteuert. 4
À propos "Doggerland" - die mythenumwitterte, vor mehr als 8000 Jahren endgültig von der Nordsee überspülte Landbrücke zwischen dem heutigen Ostengland, Friesland und Dänemark ist auch Betrachtungsgegenstand von OLIVIA LOUVELs "doggerLANDscape" (Cat Werk Imprint), einem so oppulenten wie verklausulierten Werk, das vielleicht sogar besser im strengen Teil unserer JazzKolumne als in diesen in der Regel leichter zugänglichen Klangformen gewidmeten Zeilen aufgehoben wäre. Auf nicht weniger als 6 10"-Vinyls und begleitenden Videos schaut die in Frankreich geborene Britin – durchaus auch unter dem Eindruck von Brexit und so – auf die Zeiten zurück, als Rhein und Themse noch als vereinter Strom dem Atlantik zustrebten, als Menschen dort lebten, wo heute die Nordsee Wellen wirft und England noch keine Insel war. Mit ComputerMusik, Klar-, Sprech- und KehlkopfGesang, vielfältig verschachtelten TonSpuren und reichlich SprachBotschaften spannt Louvel einen großen Bogen ohne selbigen zu überspannen. Als Sahnehäubchen bietet sie auch noch "a series of collectible objects and A4 artworks" an. 4
Zu einem dub-haften SchleppBeat und seltsamen elektronischen Umrahmungen deklamiert im Hallraum eine tiefenentspannte Stimme Seltsamkeiten. Liest sich (für mich) höchst aufregend und hört sich auch so an: CLOUD MANAGEMENT nennt sich das Hamburger Trio, das die Love-Songs-Leute Thomas Korf und Sebastian Kokus gemeinsam mit Ulf "Datashock" Schütte bilden. Die LP trägt den launigen Titel "V.A." (Altin Village & Mine) und ist sehr sehr gut (die hoch abstrahierende "PST Version 2" ist wirklich der Oberhammer!). 5
Den Ansatz, romantische Volks- und KunstLieder in elektronische Gewänder zu hüllen und dazu eine nette Frauenstimme erklingen zu lassen, kennen wir natürlich – Bobo hat das mit ihrem "Liederseelen"-Projekt zu einem gewissen Grad von Perfektion getrieben. Sam SHACKLETON versucht sich daran auf "The Scandal of Time" (Woe To The Septic Heart) auch – mit mäßigem Erfolg, denn hier gleitet vieles ins Klischee, weshalb wir uns auch nicht vor’m Phrasenschwein fürchten: Die elektronisch generierten Klanglandschaften an sich sind zwar nicht überraschend aber doch unterhaltsam. Der Umstand, dass zumindest mir die Stimme von Sängerin Anna Gerth nicht wirklich viel Gänsehaut bereitet, macht diese LP für mich aber doch zu etwas eher Durchschnittlichem. 3
An die seeligen Zeiten der WohnzimmerMusik(Szene) erinnert uns der Sampler "Glitzerbox 2" (Alien Transistor). Ob japanisches Gezwitscher oder ein launiges Banjo-Solo – hier regiert die Niedlichkeit. Zwischen all dem versonnenen Gitarren(an)schlagen und AmbientSoundFlächen-Kreieren blitzt hier und da aber auch eine gewisse Schalkhaftigkeit hervor. Wer im Niedlichen gern Unbekanntes entdeckt (Tennis Coats sind noch die bekanntesten der von Markus "Notwist" Acher und Jimmy Draht für diese Kompilation ausgewählten Musiker), ist hier genau richtig. 4
Die Belgrader LENHART TAPES zelebrieren auf "Dens" (Glitterbeat) einen wirklich atemberaubenden "Ethno-Noise" voller schamanistische Kraft von wild-wirren Trommeln, osteuropäisch-exotischem Gesang und etlichen Bläser- und Rasseleien, zu denen feine Dosierungen von loops, samples und anderen strommusikalischen Spezialitäten stoßen. 4
Auf das neue Album der franko-algerischen Chaâbi-Kapelle KOUM TARA haben sicher auch einige gewartet. "Baraaim El-Louz" (Odradek) feiert zu leicht jazz-beeinflussten MaghrebSounds die Schönheit der arabischen Sprache, bei z.B. "Corona Chitana" sogar mit südamerikanischen Elementen angereichert. "Die Knospen des Mandelbaums" (das bedeutet nämlich der CD-Titel) sind eine poetische Huldigung an den Frühling, an die Dialektik von Erneuerung und Kontinuität, die wie nebenbei auch viel HörSpaß bereitet. 4
Und ganz zum Schluss muss ich als alter (Nicht)Sorbe (Vorsicht! Insider-Anspielung!) euch natürlich noch auf die von der großen BERNADETTE LA HENGST gemeinsam mit dem grandiosen "Chor der Statistik" als durchaus ernst gemeinte hommage an die Braunkohlentagebau-gebeutelte Lausitz eingesungene digitale Single "Łužyca du visionäre Leere" (Trikont) hinweisen. 4


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