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STEVE JONES

Meine Sex Pistols Geschichte

(Hannibal, 360 S., 25,00 Euro)

Manch einer jener style-vernarrten Grünschnäbel, die nicht wissen (können), was sie da am Leibe tragen, wird sich in stillen Stunden vielleicht doch fragen, wofür denn der Schriftzug "Sex Pistols" auf dem vom Flohmarkt am Boxhagener Platz mitgebrachten coolen Shirt (oder angerosteten Button) steht. Und dann dank moderner Suchmaschinentechnologie erfahren, dass das ein Zusammenschluss von je nach Zählweise 4 oder 5, nimmt man die Manager/Konzeptionisten Malcolm McLaren und Dame Commander Vivienne Westwood mit dazu, vielleicht sogar 7 Typen war, die zwischen November 1975 und Anfang 1978 mindestens die PopWelt zum Einsturz brachten und genüsslich mit den Trümmern spielten. Die Historiker streiten sich wahrscheinlich noch weitere 40 Jahre, wer denn nun wirklich die/der/das Gründer dieser Legende war(en) – nach Sichtweise des Pistols-Gitarristen Steve Jones gebührt ein guter Teil des Ruhms ihm. Seine Kindheit und Jugend in einfachsten Londoner Working-Class-Verhältnissen beschreibt der Mann, der erst mit Anfang 30 wirklich Lesen und Schreiben lernte, durchaus anschaulich. Behütet und umsorgt geht anders. Der Stiefvater stellt unschöne Dinge mit dem Jungen an, der wiederum beginnt schon früh eine (klein)kriminelle Karriere als Laden-, Auto- und sonstwas-Dieb. Alkohol und illegale Substanzen kommen schnell dazu – der endgültige Abstieg wartet. Aber auch die Bühne, denn Steve Jones findet Bowie, Roxy Music und überhaupt viele Rockstars so geil, dass er sich an ihrem Equipment bedient und mit den zusammengeklauten Instrumenten eine Band gründet. Daraus werden, auch dank intensiver MarketingUnterstützung durch den ewigen Provo McLaren irgendwann die Pistols. Neben Kleptomanie und Drogen plagt Mr. Jones seit frühester Jugend auch eine enorme SexSucht – die entsprechenden Passagen dieser literarisch ohnehin eher "authentischen" denn hochwertigen Autobiografie nerven besonders, weil man doch spätestens bei der zehnten Erwähnung nun wirklich verstanden hat, dass Steve Jones immer die schärfsten Weiber und sowieso den Längsten hat. Ergreifend ehrlich und in der rotzigen Direktheit tatsächlich auch anrührend ist aber der reflektive Umgang mit diesen (Sehn)Süchten und (Ersatz)Handlungen – Jones therapiert seine Dämonen erfolgreich. Er ist heute clean und trocken, vielleicht immer noch etwas arg Testosteron-gesteuert, aber insgesamt sicher sozialkompatibler. Die hier und da gewährten Einblicke in die Banddynamik verraten dem Sachkundigen vielleicht keine wirklichen Neuigkeiten (klar: John(ny) Rotten/Lydon war/ist unausstehlich und Sid Vicious ein eher unmusikalischer Psychopath), sind aber auf jeden Fall interessant. Auch, dass ihm das, was wir heute für die ideologische Essenz von Punk halten (die DIY-Haltung und der Drang nach individueller Unabhängigkeit), schon zu Pistols-Zeiten "komplett am Arsch vorbei" ging, verkündet Jones in dreister Offenheit: "Mir war es schon immer lieber, mich mit Profis zu umgeben. (…) Ich habe einfach keinen Bock auf irgendwelche Micky-Maus-Indie Labels." Oder dass auch sein trommelnder Freund und Bandkollege Paul Cook der Meinung war, dass McLaren ein Poser war und "gern über Anarchie palaverte, aber sobald wir tatsächlich mal was Anarchisches (sic!) unternahmen, schiss er sich in die Hosen. (…) im Grunde genommen war er ein ziemlich kleinlauter Kerl." Das sehen nicht viele so, aber Jones war ja nun wirklich dicht dran. Der legendäre Auftritt in der Bill-Grundy-Show am 01.12.76 war "in mancherlei Hinsicht (…) unser allerbester Moment, aber in einem anderen Licht betrachtet, war es gleichzeitig der Anfang vom Ende." Stimmt durchaus. Seit 1982 lebt Jones in den USA, spielte auf etlichen Alben (Gast)Gitarre und auch immer wieder in eigenen Bandprojekten (allerdings eine Form von "ehrlichem Rock", mit der ich nichts anfangen kann) und hat seit Jahren eine RadioShow. Auch wenn das Buch sehr breitbeinig, schnoddrig und immer leicht konfus daherkommt, das Vorwort von Chrissie Hynde so kurz ist, dass ich es eigentlich gar nicht erwähnen wollte und Jones sich mehr als einmal auch komplett verzettelt und verrennt: nicht nur der sehr ehrliche Umgang des Autors mit seinen Obsessionen macht das Werk durchaus lesenswert. Aber der deutsche Titel ist doch wirklich komplett doof – wieso blieb man nicht beim englischen Original: "Lonely Boy"?
Weitere Infos: › www.hannibal-verlag.de


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