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JENNY HVAL

Perlenbrauerei

(März, 168 S., 22,00 Euro)

Auf der äußerst gelungenen popup-Buchmesse, die Leif Greinus und Gunnar Cynybulk im Frühjahr als Reaktion auf die Absage der "richtigen" Messe innerhalb kürzester Zeit auf die Beine gestellt hatten, begrüßte die Besucher gleich am Halleneingang eine Legende: in blutigstem Rot prangte da der Schriftzug "März" auf quietschegelbem Untergrund. Barbara Kalender und Richard Stoiber haben die 68er Ikone im letzten Jahr wiederbelebt und mit dem Neudruck von Valerie Solanas’ "S.C.U.M."-Manifest schon eine erste Duftmarke gesetzt. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie in Leipzig das hier zu besprechende Buch noch nicht dabei hatten – oder war meine Freude über die vielen netten Gespräche und Begegnungen an den oft liebevoll improvisierten Ständen etwa so groß, dass ich den Roman der großartigen Künstlerin Jenny Hval übersehen habe? Wie auch immer, die Norwegerin, die wir ja vor allem als Musikerin und Performerin kennen, debütierte daheim schon 2009 mit diesem Text – welch Glück, dass nun die Organisation NORLA (= Norwegian Literature Abroad) die gemeinsam von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk geleistete Übersetzungsarbeit förderte und "Perlebryggeriet" endlich auch auf Deutsch vorliegt. Es geht um Jo, eine junge Frau, die aus dem dunklen, aber überschaubaren Norwegen nach England aufbricht, um dort Biologie zu studieren. Der Start im beängstigend-aufregenden Aybourne fällt schwer – alles ist fremd und neu und verwirrend anders. Das (erfundene) Städtchen bildet die Staffage für eine sich aus schüchternem Ertasten der neuen Umgebung und etlichen Schwierigkeiten beim Finden einer geeigneten Unterkunft entwickelnde Geschichte. Die ist eigentlich ganz banal, aber das sprachliche und dramaturgische Geschick der Autorin verleiht dem Text eine packende und zugleich irritierende Faszination. Von Beginn an scheint sich des Lesers Atem zu verlangsamen, die Sätze sind perfekt rhythmisiert: mal kurz und melancholisch, mal lang und verschlungen, das Wechselspiel erzeugt eine bizarre, aber auch wohlige Atmosphäre. Langsam und doch angespannt, unsicher und doch auch behaglich. "Da, und nicht da." Nachdem Jo endlich bei der etwas älteren Carral in einer notdürftig zu Wohnzwecken umgebauten Brauerei unterkommt, scheint sich der klebrig-modrige Hauch, den Jo aus den die Räume teilenden dünnen Spanplatten atmet, auf das ganze Buch zu übertragen. Doch nicht nur die Gerüche und taktilen Eindrücke sind eigenartig, auch akustisch ist das Haus wie ein offenes Buch, in dem man sogar zurückblättern kann: "Der offene Fabrikraum nahm sich der Echos gut an, und Klangwellen, die schon längst weg waren, konnten liegen bleiben und zwischen den Wänden rotieren und die Stille ausfüllen, bis andere Geräusche übernahmen." Feucht-moosig ziert ein großer Pilz den Rand der Badewanne, das Haus ist bald durchdrungen vom Odeur vor sich hin faulender Äpfel sowie vom olfaktorischen Resultat unwillentlichen, aber doch die Beziehung der beiden ungeahnt intensivierenden Bettnässens (überhaupt ist Hval sehr präzise und fixiert in ihrer Beschreibung weiblichen Urinierens). Und doch ist es ein Rückzugsort, eine Heimat für zwei auf sehr unterschiedliche und doch auch sehr ähnliche Weise aus der Welt gefallene Frauen. Grotesk und lyrisch, psychedelisch und sinnlich und voller wunderbarer SprachBilder. Wie etwa jenes, als Jo die Brauerei am Ende des kurzen Romans verlässt: "...es fühlt sich an, als hätte ich lange Wurzeln, die im Haus festhängen und sich hinter mir länger und länger dehnen … werden dünner und dünner, bis sie wie Nähgarn sind. Langsam, aber sicher sehe ich, wie die Brauerei zerbröselt und mir folgt, sich auf meinen Fäden aufreiht, als sei es ein Haus aus kleinen, blanken Perlen." Intim und unverschämt, verletzlich und kraftvoll, verloren und geborgen, surreal und phantastisch - in jedem Sinn. Ein ganz großer Tipp!
Weitere Infos: › www.maerzverlag.de/shop/buecher/literatur/perlenbrauerei


Juli 2022
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