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CLEMENS MEYER

Stäube

(Faber & Faber, 128 S., 22,00 Euro)

Auf den nächsten großen Roman des Leipzigers müssen wir wohl noch etwas warten, im diesem Kurzgeschichtenband beigefügten Essay "Wozu Literatur" kann man aber zumindest erahnen, mit welchen Themenkomplexen Meyer gerade ringt. Überhaupt ist dieser knapp 30seitige Nachsatz alles andere als eine auffüllende Beigabe, sondern im Gegenteil ein höchst interessanter Einblick in seine literarische Sozialisation und auch handwerkliche bzw. theoretische Arbeit. Da werden einige sozialistische Realisten sehr gelobt (z.B. sollte Scholochows "Menschenschicksal" nach Meyers (und auch meiner) Meinung trotz der "ideologischen Verwicklungen" seines Autors auch heute noch Schullesestoff sein), es wird geschildert, wie B. Traven, J. Roth oder Franz Werfel den Autor geprägt haben – offenbar ist Meyer (obwohl erst 1977 geboren), hier auch ganz Kind des LeseLandes DDR. Da entschuldigen wir sogar großzügig den (Tipp?)Fehler "Franziska Linkhand" (die Heldin in Brigitte Reimanns Roman heißt natürlich Linkerhand). Auch sein wegen "Formalismus" aus der Hallischen Kunsthochschule rausgeworfener Großvater hinterließ Spuren in Meyers Werk – manche seiner Schilderungen der Schönheit in melancholischer Tristesse faszinieren auf ähnliche Weise wie die großartigen, stets menschenleeren Straßenansichten Otto Möhwalds. Auch etwas Kollegenschelte gönnt er sich in diesem Text und das mal von Iris Radisch unsensibel-verständnislos vergebene Etikett "Unterschichtenkasperletheater" schmerzt ihn offenbar noch immer. Nicht ohne Grund, denn die Identifikation mit den Verlierern, mit denen, die nicht in der Sonne stehen, mit den von Schmerz und Wut Gezeichneten und in Schmutz und Gewalt (eben doch auch um ihr Glück) Kämpfenden ist keinesfalls sozialromantischer Kitsch, sondern immer wieder große SchreibKunst. Hier – und damit kommen wir endlich noch kurz zu den Geschichten – in Gestalt der einsam im dem Braunkohletagebau geopferten Dorf ausharrenden Mutter, dem in den dunklen Tiefen einer Höhle ins Delirium sinkenden BergmannsKind oder der für die Liebe noch zu jungen "Kanakenbraut". Mit expressiver WortGewalt schildert Meyer deren Befinden, das tatsächlich Gespürte, die wirkliche Welt – und sei sie noch so rauschhaft, desaströs oder aussichtslos. Dass Meyer "dünnhäutig" wird, wenn man seine Helden "Randgestalten" nennt, ist nur zu verständlich – es sind Menschen, die mitten in ihrer Welt stehen. Diese ist nur eine andere als die im ZEIT-Feuilleton. Und hatte ich schon erwähnt, dass das Buch nicht nur Text, sondern auch einige sehr stimmungsvolle, die geschilderten Meyer-Welten visuell sensibel umsetzende Fotos von Bertram Kober enthält?
Weitere Infos: › www.verlagfaberundfaber.de/buch/81


November 2021
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