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SARAH MOSS

Geisterwand

(Berlin Verlag, 158 S., 20,00 Euro)

Wenn erwachsene Menschen Geschichte nachspielen, wird es sehr schnell entweder albern oder verbissen. Ob als "living history" oder konkretes "re-enactment", das Eintauchen in vergangene Lebenswelten dient oft zur Sublimation eigener Neurosen. Der englische Busfahrer Bill ist da prototypisch, denn ob seine 17jährige Tochter Silvie nun möchte oder nicht – genau wie ihre Mutter hat sie den Vater zu seinem Eisenzeit-Experiment zu begleiten. Die Sommerferien im Moorwald Northumberlands, barfuß und in einer kratzenden Tunkia? Silvie fügt sich klaglos. Neben den Eltern sind auch noch drei Archäologie-Studenten mit ihrem Prof dabei, aber der pseudo-historische Eskapismus entpuppt sich schnell als untergeordnetes Problem. Denn der Vater lebt seinen jähzornig-sadistischen Despotismus aus, in dem Irrglauben, die Macht über seine Familie sei naturgegeben, geboren aus dem Recht des physisch Stärkeren. Schläge und Strafen nimmt Silvie hin, die Mutter hat nicht die Kraft, hinzusehen. Nur die Studentin Molly benennt das Verhalten offen und unverblümt: archaisch, aus der Zeit gefallen, auf jeden Fall inakzeptabel und keineswegs schicksalhaft. Silvie zögert und schwankt zwischen Gehorsam und Selbstbewusstsein, zwischen jahrelang eingebläuten Schuldkomplexen und dem an Molly bewunderten Freiheitsdrang. Das Ende muß tragisch sein – und dennoch hat Silvie beim finalen Opferritual die richtige Wahl getroffen. Subtil und tastend, zögerlich und suchend schildert Sarah Moss in diesem sehr gelungenen Buch die Metamorphose eines Mädchens als Metapher für das Erwachen einer Generation. Sprachlich dicht, mit einer großen Gabe für Naturbeschreibungen und das Nachzeichnen sozialer Schattierungen ist "Geisterwand" eine klare Empfehlung wert.
Weitere Infos: › www.piper.de/buecher/geisterwand-isbn-978-3-8270-1413-9


Juli 2021
ANDRI HINNEN
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