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QUINN CHRISTOPHERSON

Musik als Notwendigkeit

QUINN CHRISTOPHERSON

„I used to have long hair / I used to smile when I walked / I used to be someone I hated / I used to cry a lot / I used to think I was a woman”, singt Quinn Christopherson in ´Erase Me´, dem Song, der nicht nur sein Outing als Trans-Mann im Jahre 2017 thematisiert, sondern ihn auch als Künstler auf den Weg brachte. Mit dem Lied gewann Christopherson vor drei Jahren den renommierten Tiny-Desk-Contest des US-Radiosenders NPR und konnte so plötzlich sein Hobby zum Beruf machen. Auf seinem Debütalbum ´Write Your Name In Pink´ erzählt der in Anchorage/Alaska, als Kind indigener Eltern aufgewachsene Musiker seine Geschichte nun weiter.

Wie kann man sich die Teile seiner Identität zu eigen machen und gleichzeitig anerkennen, dass alles veränderbar und immer im Fluss ist? Quinn Christopherson beantwortet diese Frage auf seinem LP-Erstling mit betont persönlichen Texten voller brutaler Ehrlichkeit und lyrischer Präzision, die ihm bereits Vergleiche mit Joni Mitchell und The-Mountain-Goats-Vordenker John Darnielle eingebracht haben. Christopherson beschreibt in seinen Liedern schlimme Teenagerjahre, sein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter und die komplizierte Suche nach seiner eigenen Identität, erkennt dabei aber auch an, dass sich Perspektiven und Einschätzungen mit der Zeit ändern können.

Die Hinwendung zur künstlerischen Betätigung, zum Musikmachen, war für Quinn Christopherson keine bewusst getroffene Entscheidung, sondern Notwendigkeit.

„Bevor ich das Schreiben und die Musik entdeckt habe, gab es nichts, was mir geholfen hätte, mich besser zu fühlen“, erinnert er sich im Gespräch mit der Westzeit. „Das war eine echte Erleuchtung für mich. Ich schrieb etwas, teilte es und fühlte mich plötzlich gut. Das war total verrückt, denn so etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt.“

Seine ersten Gehversuche machte Christopherson im klassischen Singer/Songwriter-Format, solo mit Gitarre. Auf ´Write Your Name In Pink´ dagegen setzt er lieber auf elektronisch umspülte, unaufdringliche Indiepop-Balladen mit verträumtem Dream-Pop-Vibe, die sich langsam, aber unwiderstehlich aufbauen und trotz aller Konzentration auf die Texte dennoch nicht mit Eingängigkeit geizen.

„Weil ich als Solo-Singer/Songwriter angefangen habe, sehnte ich mich für diese Platte einfach nach mehr Saft und Groove“, erklärt er die musikalische Ausrichtung der LP. „Im Kern sind meine Songs akustisch und langsam im Tempo, und deshalb hat es eine Menge Spaß gemacht, sich auf die Suche nach dem Groove zu machen."

Dafür hatte Christopherson zuletzt unerwartet viel Zeit. Der Gewinn des Tiny-Desk-Contests hat ihm schon 2019 viel Aufmerksamkeit beschert, doch dann kam die Pandemie. Als verlorene Zeit betrachtet er die letzten Jahre aber dennoch nicht.

„Ich hatte noch viel über die Musik und die Musikindustrie als Ganzes zu lernen“, gesteht er. „Es war prima, dass ich ein wenig mehr Zeit hatte, mir darüber klarzuwerden, was mir am Teilen meiner Musik besonders viel Freude macht, und es war auch gut, Zeit zu haben, um zu ergründen, was es heißt, jeden Tag kreativ zu sein. Zuvor hatte ich die Musik nie in Vollzeit verfolgt, und deshalb hatte ich das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, was es heißt, Künstler zu sein.“

Zum Gitarrespielen kam er erst im Alter von 20, doch schon zu Schulzeiten schrieb er Gedichte, die er rückblickend als Keimzelle für sein Tun als Singer/Songwriter sieht.

„Das Gefühl, dass das Schreiben in mir auslöst, ist das gleiche, ganz egal, ob ich Gedichte oder Songs schreibe“, erklärt er. „Als ich anfing, den Worten Musik hinzuzufügen, stellte ich schnell fest, dass das eine angenehme Art ist, meine Gedanken mit anderen zu teilen: ´Oh, ich könnte singen, anstatt mit den Leuten nur zu reden.´ Das ist einfach eine prima Art, meine Storys zu erzählen."

Tatsächlich geht es in den Songs auf ´Write Your Name In Pink´ oft um Christophersons Vergangenheit, aber auch darum, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen und seine eigene Geschichte zu schreiben. So beleuchtet er in ´2005´ eindringlich und unumwunden die schlimme Zeit, die er in der Mittelstufe durchmachte, wenngleich er dafür eine ungewöhnliche Perspektive wählte.

„Diese Zeit war wirklich hart für mich, deshalb wollte ich vor allem auf die kleinen Momente zurückblicken, die sich gut anfühlten“, erklärt er. „Für mich war das gewissermaßen eine Notwendigkeit, denn immer, wenn ich den Song jetzt höre, denke ich an die positiven Dinge in der Mittelstufe. Vielleicht ist das ein Blick durch die rosarote Brille, aber ich brauchte das einfach.“

´2005´ist nicht der einzige Song, bei dem Christopherson den Blickwinkel ändert. In ´Neighborhood´ blickt er auf das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter mit einer neuen Empathie, nachdem er sie zuvor stets als die Böse portraitiert hatte.

„Diese Platte ist so sehr mit Nostalgie, mit der Vergangenheit und meiner Kinderstube verknüpft, dass es wichtig für mich war, mich auf das Gute zu konzentrieren."

´Write Your Name In Pink´ ist so Christophersons Ausdruck der Dankbarkeit, es so weit geschafft zu haben. Dennoch: Erinnerungen wach zu halten, ist ihm genauso wichtig, wie bestimmte Dinge zu verarbeiten und hinter sich zu lassen, oder wie er selbst es abschließend ausdrückt: „Ich benutze das Schreiben in jeder nur erdenklichen Art und Weise."

Aktuelles Album: Write Your Name In Pink (Play It Again Sam / Rough Trade)


Weitere Infos: quinnchristopherson.com Foto: Emma Sheffer


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