Die Zeiten, in denen das Reeperbahn-Festival in jedem Jahr mit neuen Superlativen überraschen konnte, sind wohl vorbei. Das hat Gründe. Wie alle anderen Festivals auch, hat auch Hamburgs Traditions-Stadtfestival mit den Umbrüchen im Musikbusiness zu kämpfen – und inzwischen auch sein festes Publikum gefunden. US-amerikanische Bands zeigen von Jahr zu Jahr weniger Interesse auf dem europäischen Markt zu touren und sind demzufolge auf für Festivals nur eingeschränkt zu buchen. Britische Acts stöhnen hingegen unter der Last der zusätzlichen Schikanen, die der Brexit mit sich brachte (und werden demzufolge oft von irischen Künstlern vertreten). Skandinavische Acts verzichten in den letzten Jahren zunehmend auf eigene Schwerpunkt-Tage.
Das Reeperbahn-Festival kompensiert das schon seit Jahren erfolgreich mit den regelmäßigen Länder-Showcases – beispielsweise dem „Schweizer-Tag“ auf der Spielbude XL, den Österreichern im Indra, dem zweitägigen „Canada House“ im Uwe oder dem legendären „Aussie BBQ“ im Molotow. Und selbst hier schlagen die Umbrüche zu – wenn auch auf lokaler Ebene: Das Molotow – in dem die besagten Aussie BBQs und der Hauptteil der attraktiven Indie-Konzerte bis zum letzten Jahr in verschiedenen Clubs und dem Backyard stattfanden, musste umziehen – und zwar in die wesentlich kleinere Spielstätte des ehemaligen Moondoo-Clubs an der Stelle, an der dereinst der legendäre Star-Club (der zweiten Hamburger Spielstätte, die die Beatles nach den Indra aufspielten) platziert war. Das bedingte letztlich, dass das Molotow in diesem Jahr ständig überfüllt war - und die wartenden Gäste im Keller geparkt wurden bis einige Gäste den Club dann wieder verließen. Fazit: Das Aussie BBQ musste sich das Molotow dann mit der Créme der angesagtesten Indie-Acts teilen. Dafür fanden dann einige interessante Themen-Abende im Bahnhof Pauli statt. So etwa die Showcases des angesagten Indie-Labels Partisan.Was ebenfalls in diesem Jahr zu beobachten war, war eine thematische Schwerpunkt-Bildung in Sachen Hip Hop / Rap und Pop – wobei Nina Chuba als „Überraschungsgast“ mit einer Free-Show auf dem Heiligengeist-Feld dann nicht nur all diese musikalischen Aspekte bediente, sondern auch für mächtig Zustrom an Fans sorgte, die ansonsten das Reeperbahn-Festival nicht mit der Kneifzange angefasst hätten. Und letztlich fanden dann einige interessante Schwerpunktshows noch auf der größten – und ebenfalls ohne Ticket frei zugänglichen Spielbude XL-Stage statt. Gegenüber der Vorjahre deutlich ausgedünnt waren dann die freien Konzerte auf den kleineren Bühnen (wie Fritz-Cola Bus, Village Acoustics und Mopo-Bus) des Festival-Village auf dem Heiligengeist-Feld. Alles in allem ist also auch das Reeperbahn-Festival im Umbruch; hat es aber gleichzeitig geschafft, zum 20-jährigen Jubiläum das Prinzip des Stadtfestivals auf ein gut geöltes Level zu hieven - wobei sich Traditions-Veranstaltung wie die Verleihung der Awards (insbesondere des Anchor-Awards) oder Eröffnungsveranstaltung im Operettenhaus sich inzwischen weitestgehend überraschungsfrei verselbständigt haben. (Dass Mei Semones den Anchor-Award mit nach Hause nahm, war jedenfalls keine Überraschung, denn die ist nun wirklich anders als alle anderen). In Sachen Diversity, Equality, Awareness setzte das Reeperbahn-Festival in diesem Jahr unter dem Leitmotiv „Imagine Togetherness“ erneut Maßstäbe, an denen sich andere Veranstaltung messen lassen werden müssen.
Kommen wir aber mal zur Musik bei den Shows einiger der angesagtesten Alternative-Acts. Das aus den Schulfreundinnen Lily Aron, Emma Brandon, Ailbhe Barry und Hannah Kelly bestehende irische Quartett Florence Road überzeugte im Molotow mit einem Sound und einer Attitüde, die noch auf die Anfänge der Band verwies, die seit 2019 in einer Gartenhütte Live-Sessions veranstaltete, die schließlich die Aufmerksamkeit ihrer US-Kollegin Olivia Rodrigo erregte, was dazu führte, dass Florence Road ihre Debüt-EP im Juni dieses Jahres dann auf einem Major-Label veröffentlichen konnte. Obwohl der Sound auf dieser EP schon auf Massenkompatibilität ausgepegelt wurde, ist davon live noch nichts zu verspüren. Hier präsentierten Florence Road griffigen Alt-Rock mit dezentem Retro-Flair, der nur deswegen nicht als Indie-Rock durchgehen konnte, weil die Band nun mal einen Major-Deal hat. Die noch ziemlich jungen Musikerinnen zeigten dabei eine fast schon sendungsbewusste Bühnen-Energie und hatten offensichtlich jede Menge Spaß an ihrem Tun. Auf die zuvor bei der Eröffnungsveranstaltung eingesetzte Pyrotechnik musste im Club natürlich verzichtet werden.
Das deutschstämmige Quartett Power Plush präsentierte anschließend im Bahnhof Pauli die Songs des aktuellen Albums „Love Language“ - das ursprünglich für den April angekündigt worden war, dann aber auf den Herbst verschoben wurde – und deswegen ein wenig untergegangen ist. Im Bahnhof Pauli präsentierten Anja Jurleit, Maria Costantino, Svenja Schwalm und Nino Cutino nicht einfach einen Showcase sondern – als letzter Act des Abends – eine fast zweistündige Show, in der alles gegeben wurde. Dabei gefielt das Quartett ohne dezidierte Lead-Sängerin durch angenehm temperierten Harmoniegesang, einen druckvollen Gitarrensound und eine mitreißende Live-Attitüde. Das Problem dabei ist die vorhersehbare Qualität des Songmaterials, das sich immer wieder der gleichen Harmoniefolgen bedient. Es gibt da aber eine Ausnahme, die sich eigentlich als Blaupause für die Zukunft anbieten würde – und das ist der Track „Feelz“ von der EP „Vomiting Emotions“ der durch einen Killer-Refrain mit ausgefeilt gestaffelten Harmony-Vocals aufwartet und in der ausufernden Live-Version auch zu einem Highlight der Show geriet.
Für viele Freunde gesitteter Artrock-Postpunk-Operetten war sicherlich der Auftritt des Londoner Ensembles Man/Woman/Chainsaw im Molotow Club geeignet (jedenfalls für die, die rechtzeitig da waren, um einen Blick auf die Bühne erhaschen zu können). Das Sextett um Gitarrist/Sänger Chris Ward und die abenteuerliche Sängerin/Bassistin Vera Läppinen (die hinter ihrem unschuldigen Kindergesicht eine der maßgeblich überzeugendsten Stimmen des Indie-Universums versteckt) hat sich zwar noch nicht entschieden, was es denn überhaupt musikalisch zusammen hält – bietet aber zwischen Folkrock, Postpunk, Krautrock und Prog-Punk (um jetzt aber wirklich nur die extremsten Eckpunkte aufzulisten – so ziemlich alles, was in Indie-Kreisen Freude macht. Das tun Man/Woman/Chainsaw dann mit einer Inbrunst und Spielfreude, die andere Bands blass aussehen lässt. Kein Wunder, dass die Band als zur Zeit beste Live-Band des UK ausgelobt wird. Obendrein besitzt die Band mit Clio Starwood eine hauptamtliche Geigerin – was nun wirklich den hartnäckigsten Schubladendenker aus dem Gleichgewicht bringt.
Beim bereits erwähnten Partisan-Showcase-Abend im Bahnhof Pauli gab es dann einen bunten (bzw. eher „darken“) Querschnitt durch das Angebot des Labels. Das aus Alaska Reid und Dylan Fraser bestehende, amerikanisch/schottische Duo Witch Post begann den Abend mit gepflegtem Kaputnik-Blues bzw. -Rock mit Birthday Party Flair und Ansagen von Alaska Reid wie „Den nächsten Song habe ich mit Bob Dylan geschrieben“ oder „Wir spielen jetzt eine Coverversion – aber von einem eigenen Stück“. Nun ja: Es hat ja noch nie geschadet, wenn Musiker ein bisschen crazy agieren.
Hinter dem Namen TTSSFU verbirgt sich das Solo-Projekt von Tasmin Nicole Stephens aus Manchester, die auf der Bühne als platinblondes Alter-Ego (per Perücke) aufblüht und in Sachen New Wave Indie-Dream-Pops und -Rocks unterwegs ist. Und das recht energisch, mit einer Prise Psychedelia, einem gewissen Augenzwinkern, aufgesetzter Ennui und einigen attraktiven Proto-Hits wie „Forever“ von ihrer EP „Blown“ im Gepäck.
Das irische Quintett Just Mustard gehört zu den im Moment angesagtesten Indie-Acts und präsentierte an diesem Abend auch Songs ihres heiß erwarteten Albums „We Were Just Here“, dass dieser Tage erscheint. Die Sache geht so: Die Bühne wird in Kunstnebel eingehüllt und dann platziert sich die Frontfrau Katie Ball keineswegs in der Bühnenmitte, sondern eher am Rande und bleibt die ganze Show über wie angewurzelt mit versteinerter Miene an ihrem Platz während ihre Mitstreiter (ebenfalls ohne irgendwelche Emotionen zu demonstrieren) einen psychedelischen Shoegaze-Geisterwald erzeugen in dem dann alle herumirren und aus dem zuweilen erstaunlich laute und abrasive Soundgewitter hervorbrechen. Auf die explizite Nachfrage, ob ihnen das denn Spaß mache, bestätigten alle Musiker – mit einem freundlichen Lächeln – dass das auf jeden Fall der Fall sei.
Ein besonderes Highligt des dritten Festivaltages waren die zwei Shows des Londoner Trios Night Tapes, das auf dem Reeperbahn sozusagen die Veröffentlichung ihres Debüt-Albums „portals//polarities“ feierte (auf dass sie zwischen 2020 und 2024 mit einer Reihe vorzüglicher EPs neugierig gemacht hatte). Mit einer unwiderstehlichen Energie stürzt sich die enigmatische Frontfrau Iriis Vesik (die dereinst aus der estonischen Hauptstadt Tallin nach London zog, um dort Popmusik zu studieren) in das Unterfangen, den abenteuerlichen Mix aus Trip-Hop-Vibes, Psychedelia, Club-Elementen, Disco Grooves und E-Pop-Flair mittels ihrer exaltierten Ausdruckstanz-Moves auf der Bühne zu illustrieren und mit ihrer hochmelodischen Kleinmädchenstimme auf ein fast schon unwirkliches Level zu hieven.
Das australische Quintett Gut Health um seine auf charmante Weise exhibitionistische Frontfrau Athina Uh Oh trägt seinen eigenartigen Namen aus gutem Grunde: Der im wesentlichen um mächtige Bassläufe und nervös schrammelnde Indie-Gitarren aufgebaute Soundmix geht ohne Umweg über den Kopf gleich in den Bauch. Dazu weitet Athina die Grenzen des Machbaren in Sachen Rockstar-Posen eifrig aus. Gut Health gehen dabei vollkommen in ihrer Kunst auf und demonstrieren, wie man ein Festival effektiv nutzen kann – nämlich mit vier Auftritten an drei Festival-Tagen im Molotow.
Ebenfalls im Molotow überraschte das australische Damen-Quartett The Buyos mit einer obercoolen, mitreißenden, queeren Retro-Hardrock- und -Punk (nicht Postpunk)-Show die ihre Landsleute Amyl & The Sniffers auch nicht besser hinbekommen hätten – nur halt ohne männliche Beteiligung; aber mit mindestens genauso wilden Posen. Die Band um die quirlige Frontfrau Zoe Catterall existiert bereits seit 2016 – hat aber erst 2019 zu ihrer heutigen Form gefunden, als Hilary Geddes die Aufgabe der Lead-Gitarristin von Zoe übernahm, die sich demzufolge ganz auf ihre Rolle als Frontsirene (bzw. „Frontscreamerin“) konzentrieren konnte. Es war demzufolge eigentlich nur eine Frage der Zeit, dass die Band auf dem Aussie BBQ aufschlagen würde.
Gleich im Anschluss an die Show der Buyos gab es den Auftritt einer „alten Bekannten“. Die Blood Red Shoes hatten den Umzug ihres erklärten Lieblingsclubs ja bereits mit einem Auftritt in der neuen Location gefeiert. Nun ließ es sich Laura-Mary Carter – neben Steve Ansell die eine Hälfte des Alternative-Rock-Duos - auch nicht nehmen, ihr anstehendes Solo-Debüt-Album „Good Bye Jackie“ mit einer Show im Molotow zu feiern. Mit der Rockmusik der Blood Red Shoes hat das Ganze nichts zu tun, denn Laura-Mary entschied sich, als Solo-Künstlerin einen Ansatz als Singer-Songwriterin zu wählen und eine konfessionelle Selbstfindungs-Songsammlung über ihr bisheriges Leben als Touring-Artist zu schreiben, die sie mit einem klassischen US-Retro-Pop Ansatz musikalisch inszenierte. Das ist dann schon sehr charmant, denn Laura-Mary ist ja als Solo-Künstlerin gezwungen aus den Schatten, in denen sie sich bei Blood Red Shoes herumtreibt, hervorzutreten und sich als Frontfrau und (Bandleaderin) zu präsentieren. Das führte dann zu einer ungewöhnlichen Situation: Einer Show, bei der Laura-Mary Carter nicht nur die ganze Zeit im Spotlight stand, sondern obendrein regelmäßig lächelte und – ganz ohne Rockstar-Posen – auf charmante Weise mit dem Publikum flirtete. Und das obwohl wegen des Hacker-Angriffes auf europäische Flughäfen ihre Instrumente nicht mit nach Hamburg. gereist waren, so dass die Musiker auf fremden, geliehenen Gitarren und Keyboards spielen mussten, die sie erst auf der Bühne in die Hand bekommen hatten.
Für uns endete das Festival mit dem Besuch der Show der australischen Songwriterin Rowena Wise, die im Imperial Theater einen abschließenden Solo-Auftritt im Rahmen des Aussie BBQ-Gedankens spielte. Musikalisch und was die stimmliche Harmonielage angeht, so beackert Rowena Wise ein musikalisches Terrain, das so bzw. ähnlich auch Sharon Van Etten und Joan As Police Woman in Anspruch nehmen. Allerdings schafft es Rowena, noch desolatere und niederschmetternde emotionale Seinszustände in elegante Indie-Pop-Songs zu verpacken, als das die vorgenannten zu leisten im Stande sind. Meistens geht es in ihren Songs um verpasste Chancen und/oder unglücklich zerbrochene Beziehungs-Geflechte. Die Frage, ob sie als Mensch glücklich sei, beantwortete Rowena Wise eher ausweichend, indem sie sagte, dass ihr Vater ihr auch schon attestiert habe, dass sie immer nur traurige Lieder schreibe.
Logischerweise konnte dieser Bericht nur einen subjektiven und keinesfalls erschöpfenden Überblick über das reichhaltige Programm des Reeperbahn-Festivals bringen – er zeigt jedoch eines: Eine ordentliche Planung vorausgesetzt kann sich der aufrichtige Musikfreund auch heutzutage noch ein attraktives Programm nach seinem Gusto zusammenstellen – vorausgesetzt, man nimmt den F.O.M.O. Aspekt dabei in Kauf, denn immer noch muss mehr ausgelassen werden, als wahrgenommen kann. Das ist aber ein absolutes Luxusproblem und sollte niemand daran hindern auch im nächsten Jahr wieder das maßgebliche Stadtfestival seiner Art an die erste Stelle der Jahresplanung zu stellen.
https://www.youtube.com/watch?v=TnJYsyPtMxw
Weitere Infos: https://www.reeperbahnfestival.com/