
(Klett-Cotta – Tropen, 492 S., 28,00 Euro)
Die Britin Blakeley hat als Tochter von Aktionisten nicht das Anti-Programm gewählt, sondern sich ihre marxistische Prägung auch als Oxford-Ökonomie-Absolventin erhalten. Mit diesem Buch versucht sie sich an einer Analyse dessen, was das System "Kapitalismus" aus unserer Welt gemacht hat. Mit dem nüchternen Blick der Wirtschaftswissenschaftlerin arbeitet sie im Grunde Bekanntes (mehr oder minder) neu heraus. Und als Marxistin verortet sie Ursache ganz nüchtern (und völlig zu recht) im Privateigentum an Produktionsmitteln. Auch stellt sie eindrucksvoll heraus, dass natürlich auch die "freie" Marktwirtschaft von Planungsprozessen beherrscht wird. Wie bei den meisten Büchern zu diesem Themenkreis ergeht sie sich allerdings für meinen Geschmack etwas zu lange in Beispielen und Untersuchungen historischer Vorgänge (auch wenn die Parallelen zwischen der ersten Suezkrise und dem Inflationsschock der Siebzigerjahre und den infolge des im März 2021 mitten während des Corona-Trubels im Suezkanal verkanteten Tankers "Ever Given" 2022/23 eintretenden wirtschaftlichen Turbulenzen schon sehr interessant sind) und hat dann "nur noch" 75 Seiten Zeit, ihre Konzepte für einen Ausweg aus dem Dilemma vorzustellen. Aber dieses letzte Fünftel des Buchs (als gründliche Wissenschaftlerin arbeitet Blakeley mit einem knapp 100seitigen Fußnotenapparat) hat es in sich: nachdem sie in Allendes Chile einen seinerzeit zwar gescheiterten, dennoch aber ausbaufähigen Versuch, den Kapitalismus zu überwinden, erkannt hat, fällt der entscheidende Satz: "Der Weg zu einer demokratischen Wirtschaft wird also nur über den Kampf führen." und gleich danach wird das Werkzeug beschrieben: "Eine unerlässliche Voraussetzung für die Demokratisierung der Gesellschaft ist der Aufbau einer Bewegung, die stark genug ist, um den Interessen entgegenzuwirken, die uns daran hindern wollen, dieses Ziel zu erreichen." Dabei "spielt Technologie eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung möglicher sozialer Organisationen." Und auch das ist ihr klar: "Viele sozialdemokratische Parteien sind mittlerweile so eng mit staatlichen Institutionen verflochten, dass sie den Kontakt zu ihrer Basis von Aktivisten verloren haben. ... Doch für viele Politiker ist die Wahlmarginalisierung ein geringer Preis im Vergleich zur Erhaltung ihrer Kontrolle über eine zunehmend irrelevante Institution. Daher ist es entscheidend, die politischen Parteien zu demokratisieren und sicherzustellen, dass sie gegenüber ihren Mitgliedern und den Bewegungen, die sie unterstützen, rechenschaftspflichtig sind. Die nötigen Strategien können je nach Ort variieren. … Um erfolgreich zu sein, sollten sie sich jedoch auch auf den Aufbau von Macht außerhalb dieser Parteien konzentrieren – in den Gemeinden, in der Arbeiterbewegung und auf der Straße." Ihr Fazit ist das Gleiche wie bei Marx: "Solange das Kapital die Macht der Gesellschaft über Investitionen kontrolliert, wird diese Gesellschaft niemals vollständig demokratisiert sein. Der Aufbau einer wirklich demokratischen Gesellschaft erfordert die Aufhebung der Unterscheidung zwischen denjenigen, die alle Produktionsmittel besitzen und kontrollieren, und allen anderen." Ihrer "Schlussfolgerung" stellt sie schließlich dieses schöne Zitat von Ursula K. Le Guin voran: "Wir leben im Kapitalismus. Seine Macht scheint unausweichlich zu sein. Genauso wie das göttliche Recht der Könige. Jede menschliche Macht kann von Menschen bekämpft und verändert werden." Das heißt: "Statt die Welt als Ergebnis unerklärlicher Marktkräfte zu sehen, sollten wir verstehen, dass der Kapitalismus das Resultat bewusster Entscheidungen derjenigen ist, die ihn gestalten." und "Vielleicht halten wir die Welt, in der wir leben, für unveränderlich und glauben, dass es sinnvoller sei, sich zu unterwerfen, als sich zu wehren. Nach dem Motto: Der Kapitalismus der freien Marktwirtschaft mag nicht das beste System der Welt sein, aber er ist besser als alle anderen, die wir je ausprobiert haben. Solches Denken beruht auf der arroganten und unplausiblen Annahme, dass alle möglichen Formen der Gesellschaftsorganisation zu diesem Zeitpunkt bereits erprobt worden sind. … Wahre politische und wirtschaftliche Demokratie wurde immer und immer wieder von den Regierenden unterlaufen. … Das größte Hindernis für das Entstehen und die Ausbreitung dieser Bewegungen ist nicht die überwältigende Macht des Kapitals. Es ist die von Millionen von Menschen vertretene Überzeugung, dass ein Wandel nicht möglich sei. In dem Moment aber, in dem wir den kollektiven Glauben an die Unvermeidbarkeit des derzeitigen Systems aufgeben, beginnen wir schon mit dem Aufbau eines neuen." Dieser Erkenntnis und der ihr innewohnenden Aufforderung zum eigenen Handeln wollen und sollen wir uns nicht verschließen, denn auch wenn wohl fast jeder in mehr oder minder starker Form in das kapitalistische Hamsterrad tritt: dass eine Veränderung der Verhältnisse möglich ist und in welche Richtung diese gehen könnte, erfährt man hier tatsächlich - und das macht den zuweilen etwas drögen ersten Teil mehr als wett! Erfreulich ist auch, dass dieses Buch nicht in einem linken Nischenverlag, sondern in einer auch bürgerlich anerkannten (Populär)Wissenschafts-Umgebung erscheint. Also immer daran denken: "Die Aufgabe eines Revolutionärs ist eher die eines Gärtners als die eines Baumeisters." Legt den Samen – wo immer ihr seid und wann immer ihr könnt!Weitere Infos: www.klett-cotta.de/produkt/grace-blakeley-die-geburt-der-freiheit-aus-dem-geist-des-sozialismus-9783