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HELGA LÜDTKE

Der Bubikopf

(Wallstein, 302 S., 28,00 Euro)

Gleich zu Beginn muss klargestellt werden, dass es sich hier weder um ein Buch voller Frisurenmuster handelt noch um eine semi-erotische Bilderschau von Frauen mit kurzen Haaren. Lüdtke widmet sich dem in den 1920ern von Paris und Berlin aus die Welt erobernden Haarschnitt aus kulturhistorischer Perspektive. Erstaunlich, wie unterhaltsam und zugleich lehrreich die Lektüre dieses Buches ist, das sich im ersten Drittel (vielleicht sogar etwas zu?) ausführlich der handwerklichen Umsetzung und den einzelnen Ausprägungen von Bubikopf/Bob/Coupe à la Garçonne widmet, aber auch den Umständen seiner Entstehung sowie den gesellschaftlichen Reaktionen. Friseure, die um ihren Umsatz bangen, Schmuckhersteller, die schnell eine Vielzahl von Accessoires anbieten, Väter und Ehegatten, die handgreiflich werden, wenn sich Frau oder Tochter die Locken abschneiden – die Frisur war vor 100 Jahren ein probates Mittel der Selbstermächtigung. Als besonders radikale Variante wählten gerade einige Künstlerinnen den "Herrenschnitt" (Marianne Breslauers ikonisches Portraitfoto ihrer Freundin Annemarie Schwarzenbach ist auch hier abgedruckt) die lebenshungrigen und zunehmend v.a. als Stenotypistinnen oder "Ladenmädchen" zwar schlecht bezahlten, aber immerhin über eigenes Geld verfügenden jungen (Stadt)Frauen der Weimarer Jahre beließen es zumeist beim elegant frisierten Pagenschnitt. Die sozialen und wirtschaftlichen Implikationen werden ebenso beleuchtet wie die gesellschaftlichen Reaktionen (mit einem schönen Exkurs zu diversen ironisch/sentimentalen Karikaturen einer kurzhaarigen Loreley). Gegen Ende hin erschließt Lüdtke auch die dunkle Seite kurzer Haare, wenn sie nämlich schildert, wie die Rasur des Kopfes (nicht nur) bei "Rassenschande" oder "Kollaboration mit dem Feind" als Strafe und Demütigung eingesetzt wurde – bis hin zu den Ungeheuerlichkeiten in den Konzentrationslagern der Nazis ("Rohstoff Menschenhaar"). Etwas so vermeintlich Oberflächliches wie die Geschichte einer Frisur erhellt hier somit auch gesellschaftliche Machtstrukturen und Gewaltmechanismen.
Weitere Infos: www.wallstein-verlag.de/9783835339545-der-bubikopf.html


September 2021
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