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JULY TALK

Auf der Spitze der Stecknadel

JULY TALK

Als sich Peter Dreimanis und Leah Fay Goldstein – damals noch im Rahmen anderer Musikprojekte - im Herbst 2012 in Toronto über den Weg liefen, war das eine Begegnung mit Folgen; denn das ungleiche Paar verstand sich auf Anhieb so gut, dass sich daraus eine bis heute andauernde kreative und persönliche Partnerschaft ergab, deren bemerkenswertestes Produkt zweifelsohne das gemeinsame Band-Projekt July Talk ist. Dabei ist July Talk keine Rockband von der Stange, denn mal abgesehen von dem Umstand, dass die Musik im gemeinsamen Dialog mit den Bandmitgliedern Gitarrist Ian Docherty, Bassist Josh Warburton, Drummer Danny Miles und der seit 2016 assoziierten zweiten Drummerin Dani Nash ausgearbeitet wird, ist die Basis der kreativen Bestrebungen prinzipiell ein bis heute andauernder lebhafter Dialog zwischen Peter und Leah, mittels dessen die gegenseitigen Seinszustände im Kontext mit der Interaktion mit der Umwelt ausgelotet werden. Das und die unglaublich intensiven, hochenergischen Live-Präsentationen, derentwegen sich July Talk den Ruf als Kanada's Live-Act #1 erworben haben. Will meinen: Ohne den Live-Aspekt einzubeziehen, kann man July Talk nicht wirklich erfassen. Schön also, dass es mit dem neuen, vierten Album „Remember Never Before“ auch erstmals gelungen ist, die unbändige Dynamik der Live-Shows auch im Studio einzufangen. Da sei als Eingangsfrage gleich mal erlaubt nachzufragen, aus welcher Quelle July Talk eigentlich die Energie beziehen, die sie befähigt Abend für Abend zwei Stunden Hochleistungs-Performances aus dem Ärmel zu schütteln – sofern die Umstände das zulassen.

„Ha, ha, ha“, meint Peter Dreimanis, „ehrlich gesagt ist da gar nicht viel dabei. Das ist ein bisschen so wie das Klingeln der Glocke für Pavlov's Hund: Den ganzen Tag hast Du es wie ein Jucken im Hinterkopf, dass Du abends zu einer bestimmten Zeit auftreten wirst, und dieser Zeitpunkt setzt dann das ganze Adrenalin frei. Das ist komisch, aber selbst wenn man krank ist oder sich nicht gut fühlt oder vielleicht sogar jemanden verloren hat und somit in verschiedenen Headspaces arbeitet, wird man zu diesem Zeitpunkt dann zu dem oder zu wem, der man sein möchte. Natürlich haben wir alle unsere kleinen Rituale, bevor wir auf die Bühne gehen – aber generell lässt sich sagen, dass man dann den Moment beim Schopf packt."

Ist das vielleicht auch mit der Grund dafür, warum es nun offensichtlich erstmals gelang, die Vibes, den Druck, die Dynamik und die Magie der Live-Shows im Studio zu reproduzieren und einzufangen?

„Das ist etwas, was wir eigentlich jedes Mal versucht haben“, lacht Leah, „das ist aber schwerer als Du denkst. Und deswegen bin ich sehr glücklich, dass Du das so siehst.“ „Ja – das gibt ein breites Grinsen“, überlegt Peter, „denn meine Lieblingsband ist Dr. Dog aus Philadelphia. Ich höre mir immer gerne ihre Live-Alben an. Während ich aber das Gefühl habe, dass die Produktionstricks auf den Studio-Alben im Wege – und zwischen mir und dem Song – stehen. Ich mag es aber auch, wenn die Produktion als eigenes Instrument eingesetzt wird um das Hörerlebnis immersiver zu machen. Ich denke, dass wir auf der neuen Scheibe einfach deshalb einen besseren Job gemacht haben, das Live-Feeling einzufangen, weil wir uns danach sehnten, nach der Pandemie endlich wieder live spielen zu können. Unsere Scheiben 'Touch' und 'Pray For It' haben wir jeweils gemacht, als wir gerade lange Touren gespielt hatten und im Studio dann etwas anderes machen wollten, als unseren Live-Sound zu reproduzieren. Dieses Mal war es aber ganz anders. Wir sind mit 'Remember Never Before' ins Studio gegangen und wollten nichts lieber, als mit dem Material auf Tour zu gehen. Sogar auf einem unterbewussten Level haben wir dann wohl im Studio nach unseren Live-Vibes gesucht."

Der Opener des Albums – eine schnieke Rock-Nummer namens „After This“ - könnte sogar als eine Projektion der Idee gesehen werden, nach der Pandemie endlich wieder auf Tour gehen zu können.

„Ja, das wäre eine gute Interpretation“, räumt Leah ein, „wir alle sind ja während der Pandemie in eine dunkle Unterwelt geraten, nicht? Es war ja unmöglich, während dieser Zeit nicht über sich selbst nachzudenken. Manchmal ist ja auch eine Menge Schmerz im Spiel. Wenn Du innehältst, dann wirst Du ja zuweilen mit dem konfrontiert, wovor Du Angst hast und vor dem Du eigentlich weglaufen möchtest. Das bricht dann über Dich herein und es gibt eine Menge, das es zu durchforsten gilt. 'After This' ist einfach ein Traum von sich teilenden Wolken und dem Gefühl, eine Bürde abschütteln zu können. Und das Gefühl, dass jede Zelle in deinem Körper sich erneuert hat und die Welt eine andere geworden ist und sich an diesem Gefühl zu erfreuen."

„Ich denke auch, dass es uns dazu veranlasst hat, daran zu glauben, dass es wieder sicher genug ist, in die Welt hinauszugehen und darüber nachzudenken, was man alles verpasst hat und wie man damit umgeht“, fasst Peter zusammen, „Düsternis, Depression und Stagnation haben nämlich eine Tendenz sich festzusetzen – 'Mysery loves Company' – und wir wollten die Leute aber aufrütteln und sie dazu ermutigen, die Ereignisse positiv zu verarbeiten."

Daraus entstand dann der – widersprüchliche – Titel des Album „Remember Never Before“, richtig?

„Ja, es ging darum die Leute aufzufordern zu überlegen, was die spezifische Nacht vor der Pandemie ausgezeichnet hat, nach der sich alle sehnen und die doch nicht wieder repliziert werden kann“, ergänzt Peter, „wie kann man sich dieses Gefühl in seinem Leben vergegenwärtigen und wie kann man sich dann aber auch davon freimachen wie kann man überhaupt seinen Weg in die Freiheit finden? Ich denke, das ist eine wichtige Frage, die wir uns alle stellen sollten."

Das ist ja schön und gut – aber was hat das 'never' im Zusammenhang mit dem Begriff 'Remember Before' zu suchen?

„Das ist ein Paradox, oder?“ fragt Peter rhetorisch, „also wenn Du zu jenem Ort zurückgingst, wo Du die aufregende Zeit vor der Pandemie verbracht hast und versuchtest diese zu wiederholen, wäre das ja nicht besonders aufregend. Man muss ja etwas finden, was man noch nie gemacht hat. Du musst den Weg zur Spitze der Stecknadel finden und herausfinden, was dich wirklich begeistert, aber Du kannst Dich dabei nicht wiederholen – also wenn das Sinn macht. Was also den paradoxen Titel betrifft, so geht es um die Suche nach dieser verlorenen Energie."

Kann man das noch etwas anschaulicher formulieren?

„Für mich war Rock'n'Roll meine Kirche als ich aufwuchs“, erklärt Peter, „Rock'n'Roll war meine Identität und durch den Rock'n'Roll habe ich mich selbst gefunden. Mein Pfad und wohl auch der der Band auf diesem Album war die Suche nach jener Energie, die uns aus dem herausführen würde, was wir während der Pandemie erlebt haben. Wir haben das auf verschiedene Weise gefunden und jeder Song zeigt verschiedene Wege aus der Krise auf. Der eine ist dabei vielleicht nützlicher als der andere, aber alle haben diese Energie."

Welches Ziel hatten July Talk denn auf der musikalischen Seite? Es fällt ja doch auf, dass es auf der neuen Scheibe wieder mehr Gitarren gibt.

„Wir wollten tanzen“, murmelt Peter, während Leah noch ausführt, dass sich alles ganz organisch entwickelt hat. „Und ja: Wir wollten tanzen“, ergänzt sie, „und es ist auch so, dass es zur Zeit nicht so viel Gitarrenmusik in der Indie-Szene gibt – zumindest nicht so viel in Deutschland. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es mit den ganzen Streaming-Sachen so ist, dass es einfacher ist, etwas auf dem Computer aufzunehmen, als eine Band zusammenzustellen und ins Studio zu gehen – weil man sich das alles nicht leisten kann. Uns ist also aufgefallen, dass es eine Bewegung weg von der Gitarrenmusik gibt und dem wollten wir entgegen treten, weil laute Gitarrenverstärker nun mal unsere Wurzeln sind. Mag sein, dass wir diese auf geschmackvolle Weise einsetzen – aber auf jeden Fall haben wir keine Angst davor."

Einen gewissen Anteil daran hat ja gewiss auch Ian Docherty als Gitarrist und Produzent, oder?

„Gewiss“, bestätigt Peter, „mag ja sein, dass Ian voreingenommen ist, weil er ja eben ein Gitarrist ist – aber grundsätzlich musst Du ja auch versuchen herauszufinden, welche Kleidung ein Song selber tragen möchte. Möchte er einen dreiteiligen Anzug oder zerrissene Jeans tragen? Es gibt alle möglichen Arten, einen Song zu arrangieren – und Ian hat ein gutes Gefühl dafür, was wir gut können und was am Besten passt. Wir sind nicht daran interessiert uns zu wiederholen, aber wir sind gut darin, laute Gitarren mit pulsierenden Beats zu kombinieren. Und es ist ja auch gut, wenn man eine gewisse musikalische Identität hat. Dabei muss nur alles möglich sein und man darf sich nicht selbst im Wege stehen."

Nun: Im Wege stehen können sich July Talk ja schon alleine deswegen nicht, weil es wohl kaum eine Band mit mehr Bewegung im Angebot gibt. Jetzt soll es aber erst ein Mal endlich wieder auf die Bretter, die die Welt bedeuten gehen. Logischerweise wird das zunächst mal in Kanada und den USA passieren, aber auch Europa gehört zum Masterplan für die nähere Zukunft. Vorausgesetzt, es kommt keine neue globale Krise dazwischen.

Aktuelles Album: Remember Never Before (Six Shooter Records)


Weitere Infos: https://www.julytalk.com/ Foto: Colin Medley

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