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SOCCER MOMMY

„Schritt für Schritt in den Abgrund“

SOCCER MOMMY

´Color Theory´ heißt das zweite Album von Sophie Allison (22), die aus Nashville kommt und sich Soccer Mommy nennt. Ein großer Wurf ist ihr da gelungen. Die Lieder lassen niemanden gleichgültig, in ihren Inhalten schont Sophie niemanden und am wenigstens sich selbst. Musikalisch kann man ´Color Theory´ als eine melancholische, aber eben auch melodische, Kreuzung aus Sonic Youth, Alanis Morissette, Avril Lavigne und Taylor Swift charakterisieren. Wir riefen bei ihr an.

Sophie, hast du einen Traumjob?

“Ich liebe tatsächlich jeden Aspekt, der mit meiner Musik zu tun hat. Mittlerweile habe ich mich sogar daran gewöhnt, dass die Leute permanent über mich reden, vor allem natürlich online. Das musst du aushalten, sonst bist du im falschen Beruf. Allerdings ist es sehr wichtig für mich, auch mal abschalten zu können. Gerade habe ich ein paar Wochen Zeit gehabt, um zu Hause in Nashville einfach gar nichts zu tun, zu entspannen und es zu genießen, einmal nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein.”

Du hast an der New York University „Music Business“ studiert und 2015 damit begonnen, Songs auf der Plattform „Bandcamp“ hochzuladen. Mit deinem 2018 veröffentlichten Debütalbum ´Clean´ hast du dann bereits für einiges an Aufsehen gesorgt. Wie hast du die Zeit in Erinnerung?

“Als einen Wirbelsturm der Ereignisse. Mir war nicht bewusst, dass ´Clean´ so explodieren würde. Wir hatten das Album in zwei Wochen eingespielt, und ich war superglücklich damit, wie es geworden war. Ich hatte damit gerechnet, dass die Leute es mögen würden, aber dass ich damit auf so vielen Radars auftauche, diese riesigen Shows mit Paramore und Vampire Weekend spiele und auch eigene Konzerte ausverkaufe, das war schon magisch. Ich tat plötzlich genau das, was ich immer tun wollte, alles haute mit einem Mal hin, und ich verdiente sogar so viel Geld, dass ich nichts anderes mehr arbeiten musste, sondern mich voll und ganz aufs Musikmachen konzentrieren konnte. Das ist ein wirklich phantastisches Gefühl. Ich freue mich, dass die Leute aufgeregt sind, wenn ich neue Musik rausbringe, und ich liebe die Möglichkeiten, die ich jetzt habe. Zum Beispiel durfte ich einen Song für den Horrorfilm ´The Turning´ (heißt bei uns ´Die Besessenen´) schreiben. Das war wirklich cool. Ich liebe Horrorfilme so sehr.”

Stehst du auf Horror?

“Oh Gott, mehr als alles andere. Ich liebe Horrorfilme. Als junges Mädchen hatte ich noch Angst davor, aber so ungefähr mit 11, 12 Jahren fing ich an, diese Filme zu gucken. Richtig gefangengenommen haben mich die Filme dann während der Zeit auf dem College in New York. Ich wurde zum richtigen Nerd. Heute geht es mir nicht mehr so sehr um die Angst und um das Gruseln, sondern ich stehe total darauf, diese Filme wirklich zu analysieren.”

Wenn dein neues Album ´Color Theory´ also ein Film wäre, ist er dann näher dran am Horror? Oder doch vielleicht eher eine dunkle, verkorkste Komödie?

“Oh, Horror. Definitiv. Die ersten Lieder sind ja noch nicht so beklemmend und noch recht entspannend, die Musik hört sich so ein bisschen nach Frühling an, aber dann kommt dieser Song über die Schlafparalyse und den gruseligen Dämon, der mich im Schlaf beobachtet, während ich mich nicht rühren kann. Spätestens da sind wir in einem Terrorotium angelangt, dass noch viel düsterer und beängstigender ist als fast alles, was man in Horrorfilmen so zu sehen bekommt.”

Du sprichst über das Stück ´Crawling In My Skin´?

“Genau. Ich hatte die Platte nicht wie einen Film konzipiert, aber die Sache mit dem Spannungsbogen, dass sie also relativ hell anfängt und dann immer abgründiger wird, das war definitiv mein Plan. Langsam, Schritt für Schritt schreite ich mit den Hörern hinab in die Dunkelheit, in den absoluten, überhaupt nicht mehr spaßerfüllten Abgrund. Am Ende stehen die Qual und der Tod.

Nett.

“(Lacht): Voll scheußlich. Mir stand der Sinn nach diesem Fall in die schlimmsten Tiefen der menschlichen Emotionswelt. Die Idee mit den drei Farbkategorien, in die ich die Songs einteile, hatte ich, als ich ´Yellow Is The Color Of Her Eyes´ schrieb.”

Die Farben sind Blau, Gelb und Grau.

“Genau. Nirgendwo ist grelles Orange.”

Viele Musikerinnen und Musiker schreiben ihre Songs, um sich besser zu fühlen. Schreibst du deine, um dich schlechter zu fühlen?

“Nein, bei mir trifft weder das eine noch das andere zu. Ich schreibe auf, was ich fühle. Manchmal ist das negativer, manchmal ist das auch positiv. Oft empfinde ich es aber tatsächlich als angenehm, richtig tief in meine düsteren Gedankenwelten abzutauchen.”

Warum?

“Weil mich interessiert, was in meinem Inneren passiert. Wenn du quälende Gefühle wegdrückst, ist das so, als würdest du dich selbst belügen. Mir würde es richtig die Luft abschnüren, durch Krisen einfach hindurchzulächeln. Also schreibe ich lieber Songs darüber, wie es mir geht. Das funktioniert bei mir auch besser, als darüber zu sprechen.”

In ´Circle The Drain´, das musikalisch ein wenig an Alanis Morissette erinnert, singst du „Things feel low, even when everything is fine“.

“Yeah. Dieses Gefühl, dass von außen alles cool, aber innen alles leer ist, kenne ich sehr gut. Ich habe ja eigentlich alles: Liebe, Karriere, Familie. Ich werde umsorgt, mir fehlt es an nichts. Und doch kann sich die Riesenleere plötzlich auftun wie ein Krater.”

Wie entsteht der Krater?

“Tja, ich fürchte in meinem Gehirn. Füllen kann ich ihn nicht, zumindest nicht vollständig. Ich bin der Mensch, der ich bin. Es funktioniert nicht, Emotionen beiseite zu fegen und mich zu einem anderen Menschen zu ändern.”

Im letzten Song des Albums, ´Gray Light´ singst du über dann über den Tod.

“Genauer gesagt über die Angst vor dem Tod. Gepaart mit einem Interesse, ja fast schon einer Faszination, für den Tod. Ich habe Angst davor, aber auf eine bizarre Art sehne ich mich auch danach. Die Angst vor dem größtmöglichen Unbekannten zieht mich an und schreckt mich ab.”

Wer ist ´Lucy´?

“In dem Song gebe ich dem Bösen, ja dem Teufel, einen Namen. ´Lucy´ wegen Luzifer. Sie ist das verführerische Böse und steht für alles Übel dieser Welt, damit meine ich insbesondere auch das Übel, das im Kapitalismus liegt.”

Du verteufelst den Kapitalismus?

“Ja, klar, zumindest im Grundsatz. Das System hat offensichtliche Probleme. Einige wenige Leute leben ganz oben mit extrem viel Geld, und unten sind all diejenigen Menschen, die kaum genug haben, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Für mich ist das ein Riesenübel und nicht akzeptabel. Es muss doch möglich sein, zumindest Nahrung und Wasser so zu verteilen, dass niemand darum kämpfen muss.”

Du sagst, ´Color Theory´ soll so ein leicht altmodisches Gefühl vermitteln. Ähnlich dem, das man beim Hören einer alten Kassette empfindet. Klingen die Songs deshalb so deutlich nach den Neunzigern?

“Neunziger und frühe 2000er. Das war die Zeit, wo ich noch ein richtig kleines Kind war und die ganzen Sorgen und Gefühle von heute noch nicht kannte. Es war eine Zeit des Glücklichseins, und zugleich eine Zeit, wo ich Musik zu lieben begann. Ich wollte, dass sich der Sound meiner Kindheit, an die ich liebevoll zurückdenke, auf diesem Album wiederfindet.”

Du bist in der Schweiz geboren. Wie lange hast du dort gelebt?

“Nur bis ich zwei war. Mein Vater ist Neurowissenschaftler, er hat in Zürich gearbeitet. Meine Mutter hat Englisch unterrichtet.”

Wenn dein Vater schon Gehirnforscher ist, hast du ihn je gebeten, sich mal deines näher anzuschauen?

“(Lacht) Naja, die Menschen sind nicht sein Spezialgebiet. Er forscht mehr an Tieren. Und ehrlichgesagt ist er die Sorte von Mann, die meint, so gut wie alle Probleme ließen sich mit Willenskraft beheben. Wir haben auf jeden Fall oft lebhafte Diskussionen.”

Aktuelles Album: Color Theory (Caroline) Vö: 28.02.

Foto: Brian Ziff

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