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BLACK SEA DAHU

Die Band der vielen Gesichter

BLACK SEA DAHU

Mit viel DIY-Spirit, ordentlich Herzblut und von farbenfroher Melancholie geküssten Songs am Puls der Zeit eroberte das Schweizer Sextett Black Sea Dahu die Indie-Folk-Welt auch ohne großen Medienhype oder schlagkräftige Plattenfirma im Rücken im Sturm, bis die Pandemie Janine Cathrein und die Ihren auf der Überholspur zum Erfolg ausbremste. Ihre Enttäuschung verarbeitete die Frontfrau in den Liedern der nun erscheinenden LP ´I Am My Mother´, mit denen sie den Weg von filigranem Folk-Pop zu einem oft spürbar orchestraleren, bisweilen Filmmusik-artigen Sound findet, der unterstreicht: Black Sea Dahu wachsen mit ihren Aufgaben.

Wenn es darum geht, einen ordentlichen Satz nach vorn zu machen, haben die sechs Musikerinnen und Musiker aus Zürich – darunter Janines Geschwister Vera und Simon – mittlerweile Erfahrung. Nach der Veröffentlichung ihres inzwischen millionenfach gestreamten Debütalbums ´White Creatures` (2018) und der EP ´No Fire In The Sand´ (2019) konnten sie ihr Publikum innerhalb weniger Monate vervielfachen. Gastierten sie anfangs noch in Läden wie der Krümelküche in Duisburg oder der Wohngemeinschaft in Köln, die keinen Quadratzentimeter größer sind als ihre Namen vermuten lassen, war das letzte reguläre Berlin-Konzert der Band im Lido - Kapazität 500 - schon lange vor dem Auftritt ausverkauft, und auch im ähnlich geräumigen Hamburger Knust herrschte drangvolle Enge. Doch so wichtig das beständige Unterwegssein für die Erfolgsgeschichte Black Sea Dahus auch war: Dass COVID-19 die Band im März 2020 zu einer ungeplanten Konzert-Auszeit zwang, entpuppte sich schnell als Glück im Unglück. Die Pause vom Tourstress machte den Weg frei für neue Songs, die klanglich deutlich ambitionierter sind als die Lieder der ersten Veröffentlichungen, ohne dass die Abkehr von simplen Folk-Standards und die Hinwendung zu mehr Weitläufigkeit und einer bisweilen jazzig anmutenden Freigeistigkeit für Janine einen Bruch mit der Vergangenheit bedeuten.

„Ich bin mit viel klassischer Musik aufgewachsen, spiele Violine seit ich sechs Jahre alt bin und war mit meinem Gymnasium-Orchester auf Tour in Frankreich. Diese Musik ist eigentlich schon lange in mir drin“, gesteht sie im Westzeit-Interview. „Manchmal saß ich ruhelos im Schulunterricht und hörte der Musik in meinem Kopf zu statt der Lehrerin, dachte mir orchestrale Filmmusik aus. Dass die neuen Songs nun mehr in diese Richtung gehen, war von Anfang an eine bewusste Entscheidung und Vision von mir. Schon in den ersten Schritten des Songwritings, wo ich noch alleine in meiner 1-Zimmerwohnung an den Demos gearbeitet habe, nahm ich mit meiner Violine und Viola Streichorchester auf."

Das Resultat sind sieben unberechenbare Songs, bei denen keiner dem anderen gleicht, eine von Janines dunkler, aber stets warmtönender Stimme getragene klangliche Achterbahnfahrt, die bisweilen auch Spiegelbild der Texte ist, in denen es darum geht, seine Wurzeln und seinen Platz in einer Welt zu finden, die immer im Wandel ist. Doch wie nähert sich Janine dieser schier übermenschlichen Aufgabe und wie erfolgreich ist sie dabei, dieses Ziel zu erreichen? Sie antwortet mit einer Gegenfrage: „Ist das überhaupt ein Prozess mit einem Ende? Ich versuche, mich selbst zu ergründen und zu verstehen. Wenn ich morgens aufstehe, mache ich als Erstes eine bestimmte Routine: Yoga, eine eiskalte Dusche, Meditation und dann Frühstück mit Tee. Damit beginne ich den Tag, mir erst mal selbst zu begegnen. Ich glaube, das ist mir nämlich mit dem Erwachsenwerden abhandengekommen und ich muss es mir wieder beibringen. Ich habe eine Beobachtungsgabe, ich kann mich wahnsinnig gut von außen anschauen und mein Verhalten analysieren, das oft sehr Trauma- und Angst-gesteuert ist. All dies braucht man, um zu verstehen, was einem im Leben zugestoßen ist und weshalb man gewisse Reaktionen und Verhalten an den Tag legt. Sie zu akzeptieren, zu verändern, zu vergeben, da arbeite ich immer noch täglich dran."

Teil dieses Prozesses ist auch das Songwriting, das auf dem neuen Album einmal mehr sehr persönlich gefärbt ist, wenn Janine in ´Glue´ die Demenz ihrer Großmutter thematisiert oder im Titelsong darüber sinniert, wie man von den Menschen geformt wird, die einem am nächsten stehen. Es sind Lieder über Empathie, Akzeptanz und die Kunst, die Schönheit im nie endenden Tanz zwischen dem Hässlichen und dem Erhabenen zu erkennen. Doch versorgen die Songtexte Janine eigentlich mit Antworten auf die Fragen, die das Leben abseits der Musik aufwirft oder stößt sie beim Schreiben eher auf neue Fragen, die es dann im Leben (und nicht in der Musik) zu beantworten gilt?

„Was für eine wundervolle Frage! Es passiert mir regelmäßig beides beim Songwriting“, verrät sie. „Dann kommt auch noch ein dritter Aspekt hinzu, wo mich Hörerinnen und Hörer mit Fragen oder mit ihrem individuellen Verständnis zu den Texten konfrontieren und ich plötzlich merke: ´Oh stimmt! Das habe ich hier ja auch noch drin versteckt. Ich hab´s beim Schreiben selbst gar nicht gemerkt, aber es macht total Sinn, dass ich dies damit (auch) ausdrücken will.´ Ich schreibe oft Lyrics mit mehreren Gesichtern. Es freut mich, wenn Leute das merken und umso mehr, wenn man mir eines zeigt, das mir verborgen war."

Aktuelles Album: I Am My Mother (Black Sea Dahu/Broken Silence)


Weitere Infos: › www.blackseadahu.com Foto: Paul Maerki

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