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CLEMENS MEYER

Über Christa Wolf

(Kiepenheuer & Witsch, 112 S., 20,00 Euro)

Clemens Meyer muss man hoffentlich nicht vorstellen. Und wenn doch, dann nicht an dieser Stelle. Der Leipziger Autor mit dem weiten Herz für die Randständigen und Vergessenen insbesondere der ostdeutschen Gesellschaft (auf dessen nächsten großen Roman nicht nur ich seit langem warte - Clemens! "Im Stein" war vor 10 Jahren! Wir brauchen neuen Stoff von dir! Zum Nachdenken und Nachfühlen!) schreibt hier im Rahmen der von Volker Weidermann unter der Klammer "Bücher meines Lebens" herausgegebenen Reihe über die Grande Dame der DDR-Literatur. Auch Christa Wolf muss man hoffentlich nicht vorstellen. Und wenn doch, dann nicht an dieser Stelle. Wobei man jenen, die mit dem Namen nichts anzufangen wissen, die Lektüre dieses kurzen Essays ganz besonders anempfehlen möchte, lernen sie doch auf diesem Wege gleich noch etliche andere, von der bundesdeutschen Literaturkritik bestenfalls ignorierte (meist aber nicht mal das), nichtsdestotrotz aber oft höchst entdeckens-(bzw. bewahrens-)werte DDR-Autoren kennen. Meyer umreißt ein in der für ihn charakteristischen Faserigkeit immer wieder von anderen Gedanken, Abschweifungen und Einschüben durchzogenes "Glossar..., ein Register" jener "deutschen Literatur der DDR", die bewusst machen soll "wie wir so geworden sind, wie wir heute sind". Das reicht von Wolfgang Hilbig bis Fritz Rudolf Fries (unbedingt lesen: "Verlegung eines mittleren Reiches"!), von Erik Neutzsch bis Irmtraud Morgner ("Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers", "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz", "Amanda. Ein Hexenroman." - einfach alles von ihr unbedingt lesen!), von Erich Loest bis Hermann Kant (doch! "Der Aufenthalt" gehört auch ins "Unbedingt lesen"-Fach!) und noch etlichen mehr. Im Mittelpunkt steht natürlich die von ihm als Autorin sehr verehrte Wolf, deren Ambivalenzen Meyer keineswegs ausspart, aber doch recht milde behandelt. Was Wunder, wo doch z.B. die dissidente Künstlerin Gabriele Stötzer (seinerzeit im tiefsten Untergrund und doch keineswegs versteckt in Erfurt hochaktiv) letztens in einem Galerie-Gespräch in Berlin erzählte, dass Christa Wolf in den 80ern eine schützende Hand über die damals unter strenger Stasi-Beobachtung Stehende hielt und ihr hin und wieder auch Geld zusteckte (1000 Mark davon investierte sie sofort in einen Kassettenrekorder, mit dem die wilden Klangexperimente ihrer FrauenBand "Erweiterte Orgasmus Gruppe" konserviert wurden): die Kunst des Machbaren verkörperte sich nahezu prototypisch in der einstmaligen Kandidatin des ZK der SED. Hin und wieder ermahnt sich Meyer in seinen Ausführungen (die wie schon erwähnt immer auch Abschweifungen sind) selbst, doch nicht wie ein zweitklassiger Literaturwissenschaftler zu klingen – diese Angst ist jedoch unbegründet, denn Meyer schreibt mit Herzblut, mit echter Begeisterung und zugleich mit tiefer Trauer um das vermutlich versinkende Erbe. Er ist Reflektor des gewesenen Schreibens und zugleich gelingen ihm neue Interpretationen – nicht nur wenn er aus einem Roman von Werner Heiduczek diese Antwort eines sowjetischen Dichters auf die dort aufgeworfene (und in der DDR des Jahres 1977 nicht ganz ungefährliche) Frage "Habt ihr vergewaltigt?" zitiert: "Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand eines Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren. (…) Wenn es in tausend Jahren noch Kriege geben sollte, wird es nicht anders sein. Das schwör ich dir."
Weitere Infos: › www.kiwi-verlag.de/autor/clemens-meyer-4004053


Mai 2023
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