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STEFAN THOBEN

Ein Kessel B. - Ein Sommer auf Bitterfelder Wegen

(Reiffer, 238 S., 28,00 Euro)

Stefan Thoben ist Jahrgang 1981 und stammt aus Oldenburg. Und weil die dortige Nordwest-Zeitung 1991/92 mit einer Spendenaktion Geld dafür sammelte, dass sich asthmakranke und immunsystemgeschädigte Kinder aus Bitterfeld an der Nordsee erholen können, hat er schon seit Grundschulzeiten eine gewisse Beziehung zu der dazumal als Vorhof zur Umwelthölle verschriene Industriegegend. Der Umstand, dass (zwei)stündlich der ICE München-Berlin-Hamburg in Bitterfeld Halt macht, rief ihm die seinerzeit als Viertklässler mit leichtem Grusel wahrgenommenen Berichte von tonnenweise herabregnendem Staub (bzw. Sand) und wabernden Chlorwolken in Erinnerung. Thoben fragte sich also: "Was ist aus den Kindern geworden, die damals an der Nordsee zur Kur waren?" Im Sommer 2022 suchte der schon mit einem FahrradReiseReportageBuch über das Ruhrgebiet zu einigem Ruhm Gelangte vor Ort nach Antworten. Mit bemerkenswerter Offenheit und für einen in Niedersachsen Sozialisierten auffällig fundierten Kenntnissen zur DDR-(Kultur)Geschichte ausgestattet, radelte Thoben durch das inzwischen zur Doppelstadt gewordene Bitterfeld-Wolfen und die umgebenden Dörfer (in einem davon habe ich bis 1986 meine Kindheit und Jugend verbracht). Dort traf er Menschen, die sich mal mit Wehmut, mal mit Schrecken an die Chemie- und Braunkohlejahre erinnerten, an Betriebe mit Zehntausenden Mitarbeitern und ihr privates kleines Glück, aber auch an Stürme schwarzen Sandes aus dem zur Bernsteingewinnung offen gehaltenen Tagebau und den in allen Farben giftig schillernden "Silbersee" in Wolfen-Wachtendorf. Aber mehr als 30 Jahre später ist die Bitterfelder Gegend nicht nur wirtschaftlich erstaunlich stabil (auch wenn die Seifenblase des nahegelegenen Zentrums der deutschen Solarindustrie durch eine "kluge" übergeordnete Wirtschaftspolitik nach wenigen BoomJahren platzte und die stolzen "Solar Valley"-Schilder an der A9 inzwischen – glaube ich – wieder abmontiert wurden), sondern tatsächlich auch zu (mehr als) einem Naherholungszentrum geworden. Es gibt Blicke, da kann man das mit blau-grünem (Bade)Wasser gefüllte Restloch des Tagebaus Goitzsche kaum vom Panorama eines italienischen Sees unterscheiden, es gibt schicke Hotels in Fabrikantenvillen und bestens ausgebaute Rad- und Wanderwege (was kann ich mich über E-Bike-Rentner aufregen, wenn ich dort Sonntagmorgens mit dem Rennrad lang fahre!), sogar etwas(!!) überregionale Kultur findet ab und an statt, etwa mit den in der Umgebung im Rahmen der EXPO2000 realisierten wunderbaren, inzwischen allerdings weitestgehend verfallenen land-art-Projekten, mit MusikFestivals oder interessanten und klug kuratierten Kunstaktionen wie dem 2022er OSTEN-Festival im legendären Kulturpalast. An dieser Stelle müsste man den Bogen zum kulturpolitisch ebenso interessanten wie ästhetisch gelegentlich bedenklichen "Bitterfelder Weg" als Resultat der "Bitterfelder Konferenzen" der 60er Jahre schlagen, aber das führt hier zu weit. Denn wir müssen ja noch erwähnen, dass Thobens warmherzige Notizen an keiner Stelle dem zynischen Blick eines alles Besserwissenden gehorchen, dass sich der Mann mit einer enormen sozialen und kulturellen Kompetenz die Herzen der ihm begegnenden Anwohner erschließt, daß er mit besonnen eingestreuten Zitaten von Monika Maron, Clemens Meyer oder Lukas Rietzschel die noch immer existente "Ost-Mentalität" sensibel nachzeichnet und daß er mit seinen oft auch melancholischen Fotos diesem schönen Buch noch eine zusätzliche Dimension zu verleihen vermag. Auch wenn es ihm erst ganz am Schluß seiner RadReise gelingt, eines der Kinder von 1992 aufzuspüren – erkenntnisreich war dieser Urlaub auf jeden Fall. Für Thoben - und für die Leser seines Buchs auch.
Weitere Infos: › www.verlag-reiffer.de/produkt/bitterfeld


April 2023
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