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NATALIE MERCHANT

Mut zur Poesie

NATALIE MERCHANT

Von den Mechanismen, Zwängen und Erwartungshaltungen des Musikbusiness hat sich Natalie Merchant schon lange emanzipiert. Spätestens, als sich die Songwriterin aus dem Staate New York 1995 nach einer 12-jährigen Laufbahn als Sängerin und Songwriterin für die Indie-Band 10.000 Maniacs mit ihrem Album „Tiger Lily“ in eigener Sache flügge machte, legte sie den Grundstein für ihre Karriere als Solo-Künstlerin, die sie bis heute nach ihren eigenen Regeln gestaltet – gerade so, wie sie es für richtig hält. Dabei beschränkt sie sich keineswegs auf musikalische Aktivitäten. Lange Pausen zwischen ihren Veröffentlichungen und ihren Touren lassen ihr dabei Zeit für Dinge, die sie für mindestens gleichwertig hält, wie jene als Songwriterin und Performerin. Man mag es kaum glauben, aber ihr nun vorliegendes Album „Keep Your Courage“ ist – nach 9 Jahren musikalischer Sendepause – erst ihr insgesamt fünftes Solo-Album mit eigenem, neuen Material überhaupt. Qualität ist Natalie Merchant also mit Sicherheit wichtiger als Quantität und eine ständige Präsenz im Bewusstsein der Fans.

Was hat Natalie denn in diesen letzten 9 Jahren alles gemacht – und was war der Grund für sie, jetzt neues Material zu erschaffen und zu veröffentlichen?

„Nun ich habe in der Zeit jedenfalls nicht einen einzigen Song geschrieben“, räumt Natalie ein, „ich habe deswegen keine Songs geschrieben, weil ich damit beschäftigt war, andere Dinge zu tun. Ich bin ja eine alleinerziehende Mutter, eine Aktivistin und eine Lehrerin. Ich habe mich sehr im Bereich der frühkindlichen Erziehung engagiert, um kleinen Kindern die Kunst nahezubringen. Das habe ich zweieinhalb Jahre in Vollzeit gemacht. Musikalisch habe ich dann einige retrospektive Projekte wie das Boxed-Set aufgelegt und an dessen 80-seitigem Buch gearbeitet. Ich war so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass ich kaum versuchte, zu schreiben. Ich spiele zwar immer Klavier und wenn ich Klavier spiele, komponiere ich auch in gewisser Hinsicht – es ist aber etwas anderes eine Melodie oder eine Akkordfolge zu komponieren und einen Text für einen vollständigen Song zu schreiben. Und dann hatte ich 2020 auch noch eine große Operation an meinem Rückgrat. Man hat mir drei Knochen aus meinem Hals entfernt – man kann noch deutlich die Narbe sehen; sie geht über meinen ganzen Hals. Danach konnte ich erst mal nicht mehr singen, weil sich die ganzen Muskeln in dem Bereich für etwa ein Jahr verkrampft hatten. Und dann war auch noch meine rechte Hand außer Gefecht gesetzt, weil die Nerven verletzt worden waren. Erst als die Nerven geheilt waren und ich meine Hand wieder verwenden konnte und meine Stimme zurück gekommen war begann ich, neue Songs zu schreiben."

In welcher Weise ist „Keep Your Courage“ denn von der Pandemie beeinträchtigt? Es handelt sich ja dezidiert nicht um ein Album über die Pandemie, oder?

„Nein“, bestätigt Natalie, „es handelt eher von dieser Sehnsucht nach Liebe und einer Verbindung, die wir sicher alle verspürt haben. Uns wurde ja schließlich alles so plötzlich genommen. Wir hatten ja keine Zeit uns vorzubereiten. Das war wie: 'Oh da passiert etwas in China und nun passiert es in Italien und Frankreich und Spanien – und jetzt können wir alle unsere Häuser für Monate nicht mehr verlassen'. Wir konnten unsere engsten Freunde nicht sehen, wir konnten unsere Familie nicht sehen und wir konnten Weihnachten nicht feiern – oder sonst welche Feiertage. Wenn Du gar ein Single warst, war die Chance einen Partner zu finden gleich Null. Man hatte also viel Zeit, über die Abwesenheit von Dingen nachzudenken. Ich und die Leute, mit denen ich mit drei Metern Abstand durch eine Maske gesprochen habe, als das wieder möglich war, redeten dann nur noch davon, wie sehr wir es vermissten, uns wieder in die Arme nehmen zu können, gemeinsam Mahlzeiten einzunehmen oder einfach im selben Raum sein zu dürfen – so grundlegende, einfache Dinge."

Natalie's Songs sind ja oft mit einer visuellen Note angelegt. Ist das etwas, was sie bereits beim Schreiben der Stücke beachtet?

„Ich arbeite sehr visuell“, bestätigt sie denn auch, „und ich schaue mir oft Bilder an, wenn ich Songs schreibe. Als ich zum Beispiel das Stück 'Guardian Angel' geschrieben habe, habe ich mir viele Bilder von William Blake angeschaut – besonders seine Radierungen, die Engel zeigen. Es gab da einen Engel, der so eine Art Racheengel darstellte – mit diesen ganzen Muskeln. Es ist ein männlicher Engel, der mit jemandem ringt und das wurde die Inspirationsquelle, die ich zu den Arrangeuren schickte und als meinen Schutzengel auswies. Ich sagte dann: 'Denkt an diesen Engel, wenn ihr das Arrangement für den Song schreibt'."

Deswegen wählte Natalie auch die Fotografie der Statue von Jeanne D'Arc als Covermotiv für die neue Scheibe?

„Ja, denn sie repräsentiert in besonderer Weise Mut für mich“, bestätigt Natalie.

Auf dem neuen Album finden sich auch wieder viele poetische Referenzen. So schrieb Natalie etwa den Track „Song Of Himself“ über den Poeten Walt Whitman. Bereits in der Vergangenheit hat sie ja auf ihrem Album „Leave Your Sleep“ Gedichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert als Songtexte verwendet und sie betrachtet auch ihre eigenen Songtexte als Gedichte. Was ist denn der Unterschied zwischen einem Gedicht und einem Songtext?

„Der einzige Unterschied ist, dass sie gesungen werden, wenn sie Songtexte sind“, meint Natalie, „es sei denn, es sind schlechte Songtexte – dann handelt es sich aber um schlechte Poesie. Um zu beweisen, dass es sich um schlechte Texte handelt, gibt es keine bessere Methode, als die Musik wegzunehmen."

„Song Of Himself“ ist somit eines von Natalies musikalischen Portraits realer Personen aus der Geschichte. Was aber hat es mit „Sister Tilly“ auf sich? Es gibt doch keine reale Person namens Sister Tilly?

„Oh ich kenne eine Menge Sister Tillys“ scherzt Natalie, „ich habe sie alle in eine Figur gepackt. Einige von ihren waren so etwas wie Ersatzmütter für mich. Einige von ihnen waren aber auch einfach nur Frauen, die ich von meiner Arbeit in der Nahrungsmittel-Organisation oder aus Yoga-Kursen kenne. Ich mache gerne Yoga-Kurse mit älteren Menschen, weil es da nicht um Wettbewerb geht sondern jeder froh ist, noch beweglich genug dafür zu sein. Manchmal war ich da 20 oder 30 Jahre jünger als die anderen und nach den Kursen haben wir uns einfach unterhalten – und das war schön, dass ich all diese verrückten Hippie-Ladys in ihren 70ern und 80ern kennenlernen durfte. Die hatte ich im Sinn, als ich 'Sister Tilly' schrieb."

OK – wie stellt sich Natalie Merchant denn ihre künstlerische Zukunft vor? Gibt es noch Projekte und Träume, die sie unbedingt umsetzen möchte?

„Hm“, zögert sie, „nun ich wollte immer schon mal auf italienisch singen – und werde mir diesen Traum dann jetzt auch erfüllen. Ich werde nach Italien reisen und dort mit italienischen Musikern zusammenarbeiten. Ich habe bereits damit begonnen, italienische Poesie für die Musik zu adaptieren und das werde ich jetzt in Angriff nehmen, was sehr aufregend ist. Ich habe auch immer Projekte und Träume im Sinn. So werde ich etwa bald ein Projekt mit der Chicago Symphony machen. Es geht dabei darum, alle Lieder, die ich während meiner zweieinhalb Jahre als Musiklehrerin für Kinder geschrieben habe zu produzieren und dann im Rahmen einer Theaterproduktion mit diesen Kindern vorzutragen und aufzunehmen. Das werden wir kostenlos über das Internet teilen. Und ich denke, dass die Kunsterziehung für Kinder mein Fernziel und -Traum ist. Das wird sich auf viele verschiedene Weisen bemerkbar machen und ich denke, das kann ich machen, bis zu dem Tag an dem ich sterben werde."

Aktuelles Album: Keep Your Courage (Nonesuch / Warner)


Weitere Infos: https://www.nataliemerchant.com/ Foto: Jacob Blickenstaff

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