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TINY RUINS

Songs als Zeitkapseln

TINY RUINS

Das Besondere immer im Blick: Hollie Fullbrook hat die seltene Gabe, schwierige Momente des Lebens mit schriftstellerischer Exaktheit und poetischer Note im Song-Format einzufangen und dabei stets das Offensichtliche auszuklammern. Lieber ist die neuseeländische Singer/Songwriterin auf eigenen Pfaden unterwegs, und auch mit ´Ceremony´, dem facettenreicher, farbenfroher und komplexer als je zuvor ausstaffierten neuen Album ihrer Band Tiny Ruins, wagt sie ein ums andere Mal den Blick über den Tellerrand: Nicht immer von Freude erfüllt, aber doch am Ende nie ohne Hoffnung.

In ihrem einfühlsamen Sound vereinen Tiny Ruins nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt zarten Singer/Songwriter-Folk, lebhaften Indie-Pop und psychedelisch umspülten Dream-Pop. Mit jedem neuen Album – auf den Erstling ´Some Were Meant For Sea´ im Jahre 2011 folgten drei Jahre später ´Brightly Painted One´ und 2019 ´Olympic Girls´ – hat sich Hollie Fullbrook dabei musikalisch weiter geöffnet, doch im Kern hat sich das Tun der heute 38-jährigen Musikerin nicht verändert.

„Ich habe angefangen, Songs zu schreiben, als ich ungefähr 14 war“, verrät sie im Video-Chat mit der Westzeit. „Das war anfangs nur ein Spaß, ein Wettbewerb mit ein paar Jungs in meiner Klasse. Ich war wohl ein bisschen neidisch, weil sie eine Band gegründet hatten, deshalb wollte ich zeigen, dass ich auch Songs schreiben kann. In meinen Teenagerjahren wurde das dann zu einem Teil meiner Identität. Bis heute ist das Songwriting für mich eine Möglichkeit, meine Erfahrungen für mich selbst festzuhalten, fast wie eine Zeitkapsel. Jeder Song, jedes Album bietet mir die Chance, mich in einen Moment zurückzuversetzen, der für mich aus irgendeinem Grund wichtig war."

Oft hat Fullbrook die ersten Eingebungen für ihre Songs, wenn sie in Bewegung ist. In der Vergangenheit waren das oft flüchtige Momente auf Tournee, aber selbst während des COVID-19-Stillstandes hat sich das nur bedingt geändert – dank der beiden Hunde, die sie während der Pandemie adoptiert hat. Weil ihre energiegeladenen Vierbeiner jeden Tag viel Auslauf benötigen, lernte sie die abenteuerliche Landschaft des Manukau Harbour, des großen Naturhafens in ihrer Heimatstadt Auckland, von einer ganz anderen Seite kennen. Diese Orte unweit ihres Heims in den Waitākere Ranges dienen ihr nun als Kulisse für die Lieder auf ´Ceremony´.

„So viel öfter draußen und in der Natur unterwegs zu sein, hat meine ganze Perspektive auf das Leben erweitert, das war wirklich erstaunlich“, gesteht sie. „Vieles auf dem neuen Album dreht sich deshalb um die Erfahrung, die Geschehnisse des Lebens zu verarbeiten, indem man in der Umwelt unterwegs ist, aber auch darum, wie diese Umwelt die Art und Weise verändert, wie man die Dinge verarbeitet. Das ist ein wirklich großer Teil des Albums."

Doch nicht nur textlich, auch klanglich näherte sich Fullbrook ihrer Musik von einer unbekannten Seite. Denn obwohl sie in den neuen Songs Verwirrung, Verlust und Entwurzelung thematisiert und sie selbst die Lieder als „traurig“ bezeichnet, suchte sie – anders als auf ihren ersten drei Alben – dieses Mal nach Mitteln und Wegen, diesen Aspekt nicht auch noch klanglich in den Mittelpunkt zu rücken. Unterstützung dafür fand sie bei ihrer fantastischen Band, bei Bassistin Cass Basil, Schlagzeuger Alex Freer und Gitarrist Tom Healy, der das Album auch produzierte und dabei einen wunderbar warmtönend, einschmeichelnden Sound schuf.

„Anstatt sich der Melancholie zuzuwenden, sagte die Band dieses Mal: ‚Lasst uns das Gegenteil tun und die freudigen, überschwänglichen Gefühle betonen‘“, erinnert sich Fullbrook. „Das hat mich zunächst etwas überrascht, weil es ein solcher Kontrast zu den Texten war, aber gleichzeitig hat es mir auch vieles leichter gemacht, denn ich hatte wirklich Mühe, zu diesen für mich schwierigen Texten die richtige Musik zu finden. Die Herangehensweise der Band hat schließlich dazu geführt, dass ich mich richtig darauf gefreut habe, an diesen Songs zu arbeiten, denn die Arrangements haben Spaß gemacht und die Stimmung war heiter. Natürlich steckt immer noch viel Traurigkeit in den Liedern, aber ich fand wirklich Gefallen an der Klangpalette, die wir dieses Mal genutzt haben."

Mit einem wachen Blick für liebevolle Details ist ´Ceremony´ so das musikalisch bislang abwechslungsreichste Tiny-Ruins-Album geworden, bei dem Bill Callahan, JJ Cale, Lou Reed und sogar Bruce Springsteen in der Ferne leuchten und der Weg von der minimalistischen Intensität einer klassischen Folk-Nummer wie ´Diving & Soaring´ zum wuchtigen Neil-Young-And-Crazy-Horse-Vibe von ´Dorothy Bay´, dem unwiderstehlichen Groove von ´In Light Of Everything´ oder dem sonnendurchfluteten Westcoast-Flair von ´Dogs Dreaming´ nicht weit ist.

Die Freude am eigenen Tun, die dabei spürbar ist, kommt nicht von ungefähr.

„Ich bin im letzten Jahr Mutter geworden und das ist großartig, aber die Zeit rinnt dir durch die Finger!“, sagt Fullbrook lachend. „Die Chance zu haben, mit einer Band zu spielen oder nur mal die Gitarre in die Hand zu nehmen, fühlt sich nun wie eine Belohnung an, und ich bin dankbar, dass ich dieses Ventil habe. Ich glaube, alle Eltern brauchen das, und es gibt kein besseres Gefühl, als laut einen Song herauszuschmettern!“

Aktuelles Album: Ceremony (Marathon Artists/Bertus)


Weitere Infos: tinyruins.com Foto: Frances Carter

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