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REEPERBAHN FESTIVAL 2024 (Hamburg, 18. - 21.09.2024)

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Es ist ja gar nicht so einfach, bei einer Traditionsveranstaltung wie dem Reeperbahn-Festival mit hunderten von Shows in zig über das ganze Review verteilten Spielstätten den Überblick zu behalten und dann immer die richtigen Entscheidungen zu treffen, was die Auswahl der Events betrifft. In diesem Jahr war das natürlich auch nicht anders: Selbst mit einer ausgeklügelten Planungstechnik war es einfach nicht möglich, alle relevanten Acts zu berücksichtigen. Konzentrieren wir uns also bei unserer Berichterstattung auf das, was – im Vergleich zu letztem Jahr - wirklich überraschend oder besonders gewesen ist. (Und damit ist an dieser Stelle nicht gemeint, dass Ski Aggu als Suprise Act gebucht und das Docks als Spielstätte wieder mit eingemeindet worden war).

Tatsächlich war das Angebot an Open-Air-Veranstaltungen, die man als Besucher ohne Festival-Ticket in Anspruch nehmen konnte, so groß das sich alleine auf diese Weise ein erfüllendes Konzertabenteuer hätte zurechtschneidern lassen. Gleich mehrere Bühnen waren dafür im Festival-Village und auf dem Spielbudenplatz zugänglich – und dann gab es auch noch eine Reihe von Instore-Gigs (von denen man allerdings hätte wissen müssen). Neben dem NJoy Reeperbus und der Bühne am MOPO-Bus – wo die eingeladenen Acts tagsüber kurze Showcases als Teaser für die Club-Shows am Abend spielten - gab es mit der Fritz-Kola Bühne und natürlicher der Spielbude XXL auch Bühnen, auf denen dann frei zugängliche, längere Shows für jedermann – ob mit oder ohne Festival-Bändchen – gegeben wurden. Insbesondere am Festival-Freitag bot in dieser Hinsicht die Spielbude ein volles Programm – denn traditionellerweise ist dieser Tag für die Schweizer-Delegation reserviert, die dort die Crème Suisse in Sachen Musik auffahren lässt. Als Highlight sind da mit Sicherheit die Band-Konzerte von Ella Ronen und To Athena zu nennen, die am Freitag-Abend mit großem Besteck zelebriert wurden.

Ella Ronen ist technisch gesehen keine Schweizerin, lebt aber seit einigen Jahren in dem Alpenland, nachdem sie ihre israelische Heimat hinter sich gelassen hat. Ihr aktuelles Album „The Girl With No Skin“ hatte sie sich indes in den USA von Indie-Altmeister Sam Cohen auf den Leib produzieren lassen und präsentierte nun dieses Material erstmalig mit ihrer Schweizer Band in Hamburg. Das hätte dann ein sehr berührendes Konzerterlebnis mit einer spirituellen Note auf technisch und performerisch hohem Niveau werden können – wäre es nicht von sexistischen Besoffenen an den unpassendsten Stellen zugeblökt worden. Das ist dann eher die Schattenseite des Free-For-All-Prinzips – denn die Musikfreunde waren hier definitiv in der Minderheit. Etwas besser erging es dabei im Anschluss der (echten) Schweizer Songwriterin Tiffany Limacher – a.k.a. To Athena (wobei „To“ Tiffs Spitzname und „Athena“ ihr echter zweiter Vorname ist), die zum ersten Mal in Deutschland mit einem 9-köpfigen Kleinorchester auftrat und mit ihrer engagierten Art, der großartigen Bühnenpräsentation und nicht zuletzt ihrem brillanten Songmaterial zwischen Chanson, Folk- und Kook-Pop das Publikum nicht nur einnehmen wusste, sondern mit einer dirigistischen Meisterleistung sogar zum Mitmachen bewegen konnte – und dann auch noch einen Pop-Up-Merch-Stand am Bühnenrand organisierte.

Auch in den Clubs gab es zuweilen Überraschendes zu entdecken. Zunächst mal war erfreulich festzustellen, dass alle Traditions-Dates – wie das Canada House, das Aussi Barbeque oder die Label-Gigs wie das PIAS-BBQ im Molotow wieder dabei waren. Dass es mit dem Molotow weitergehen wird, nachdem Ende des Jahres der Vertrag für den alten Standort endgültig ausläuft, steht bereits fest – aber an den Details wird noch gefeilt, so dass jetzt mit einem positiven Bauchgefühl Abschied vom bisherigen Standort am Nobistor genommen werden konnte.

Im Molotow Club wechselten sich dann eher etabliertere Acts wie Tia Gostelow oder Joan As Police Woman mit interessanten Vertretern ihrer Zunft ab, die nicht unbedingt jeder auf dem Schirm hatte – wie zum Beispiel die südafrikanische A Capella Gruppe The Joy, die auch ohne Instrumente – dafür aber mit protzigen Goldzahn-Implantaten – die Fans mit ihrem Dialekt-Ethno-Pop bestenfalls unterhielt. Oder die australische One-Woman-Band Milan Ring – eine Anchor-Anwärterin - die mit Loop-Station und Custom-Gitarren ein faszinierend vielschichtiges Mischgewebe aus E-Pop, Jazz, Hip Hop, R'n'B, Blues und Club-Elementen erzeugte – und dabei obendrein als Geschichtenerzählerin und stylischer Pop-Star Vielseitigkeit demonstrierte. Und a propos Anchor-Award: Dass Alice Phoebe Lou mit ihrem Projekt Strongboi den inzwischen renommierten Preis für die beste Performance gewinnen sollte, hätte sie sich vermutlich selbst nicht ausmalen können.

Ach ja Highlights: Sicherlich überraschend für viele dürften die inzwischen nach Provinzen sortierten Showcases im Canada House ausgefallen sein. War das früher eigentlich nichts anderes als eine Konzertreihe mit Americana-Acts aus Kanada, so tobt seit einiger Zeit – und besonders in diesem Jahr – die musikalische Vielfalt. Es waren vor allein Dingen junge Indie-Acts wie der Bibi Club oder DKTR (beides übrigens Duos) die mit ihren innovativen, mitreißenden Live Shows und der entsprechend lebensbejahenden Energie-Ausbeute den Fans den Glauben an den Rock'n'Roll wieder zurück gaben. (Auch wenn sie formaljuristisch gesehen eigentlich keinen echten Rock'n'Roll spielen.)

Im Sommersalon gab es in diesem Jahr erstmals einen Showcase-Tag mit Taiwanesischen Acts wie z.B. dem Duo Our Shame, das mit holperigem Indie-Pop, noch holperigem Englisch und einem allerholprigstem Refrain auf Deutsch zu reüssieren suchte. Traditionellerweise spielten ebendort auch wieder junge, hoffnungsvolle Songwriterinnen aus unseren Breiten auf. Brosie bot souveränen US-Großgesten-Pop a la Avril Lavigne, Mina Richman bluesifg/souligen Indiepop mit brillanten Songs und eigener Note und Stina Holmquist überzeugte ebenfalls mit brillanten Songs und quirligem, zeitgemäßem Indie-Pop. Zu dieser Spezies von Künstlerinnen gehören auch Willow Parlo oder Suzan Köcher, die aber an anderer Stelle im Stage 15 (früher Drafthouse) bzw. Häkken aufspielten. Philine Sonny hat diese Art von Impulsstart ja schon hinter sich und konnte relaxed ein paar kleiner Gigs am Rande des Festivals absolvieren, bevor sie sich dann als Surprise-Gast zu den Mighty Oaks bei deren gefeiertem Gig im Imperial-Theater zu gesellte um den gemeinsam bearbeiteten Song „Your Scars“ zu präsentieren. Der Grund, warum die Mighty Oaks ausgerechnet im überschaubar großen Imperial-Theater – und nicht einer größeren Halle - aufgetreten waren (und damit die vermutlich längste Warteschlange in der Geschichte des Reeperbahn-Festivals provoziert hatten) war der, dass die Jungs vor 10 Jahren an ebendieser Stelle ihre Karriere gestartet hatten. „Wir hatten das allerdings größer in Erinnerung“ erklärte Ian Hooper das dann entschuldigend.

Die Indie-Legende Joan Wasser (a.k.a. Joan As Police Woman) ging die Sache von einer anderen Seite an und gastierte mit einem inoffiziellen Instore-Gig bei Michelle Records am Veröffentlichungstag ihres neuen Albums „Lemons Limes And Orchids“ und einer regulären (von technischen Problemen geplagten) Show im Molotow Backyard mit je einem Solo Set und zelebrierte dabei nicht nur die neuen Songs, sondern auch den Umstand, dass „Indian Summer“ bei uns „Altweibersommer“ heißt – was sie dann gerne auf sich selbst bezog.

Auch international gesehen gab es interessante Acts zu entdecken, die nicht so oft in unseren Breiten anzutreffen sind. Das inzwischen offenbar salonfähige Ausbleiben Amerikanischer Acts wurde beispielsweise kompensiert durch den ersten Auftritt der französischen Songwriterin Laura Cahen, dem in Paris lebenden persischen Elektronik-Duo Stereotype, der portugiesischen Künstlerin Ana Lua Calano (die mit Loop-Station, Synthesizer und folkloristischer Perkussion Fado mit Avantgarde Elektronika verband), die luxemburgische Musikerin C'est Karma, die sich trotz Erkrankung durch ihr Programm kämpfte, die junge Londoner Songwriterin Eaves Wilder, die die Kunst, ihre Songs aus verschiedenen Stücken zusammenzusetzen für sich entdeckt hat und dabei mühelos zwischen melancholischem Kook-Pop und tobendem Indie-Rock hin und her pendelt oder das Londoner Indie-Rock Outfit Night Tapes mit seiner quirligen estonischen Frontfrau Iiris Visek – die gerne wütend ist, wenn sie auftritt, weil ihr dann die besseren Rockstar-Posen einfallen. Im UK bereits ziemlich etabliert hingegen ist das aus Olivia Hardy und William Gao bestehende Geschwisterpaar Wasia Project, das im Grünspan zeigte, wie sich 40er Jahre Songbook-Jazz und polternder Indie-Pop mit orchestraler Grandezza zu etwas letztlich einzigartigem verquicken lässt.

Insbesondere der in den letzten Jahren eher stiefmütterlich behandelte MOPO-Bus gefiel in diesem Jahr durch ein erweitertes Konzept mit echter Bühne, Liegestühlen und Sonnenschirmen. Hier gaben sich Künstler wie z.B. Anna B. Savage, Rasco, Prisma, Edna Million oder Bibi Club die Saiten in die Hand um im strahlenden Sonnenschein (nachmittags sogar längere) Showcases in einem für sie jeweils total atypischen Setting zu spielen. Das war dann ebenso unterhaltsam wie erleuchtend.

Nachdem das Festival dann im Knust mit einer, beeindruckenden, zunächst retrospektiven Show von Jesper Munk zu Ende gegangen war - bei der er dann aber auch schon Material seiner kommenden LP „Yesterdaze“ präsentierte – ging es darum, nicht zu sehr darüber nachzudenken, was man auf dem Festival alles verpasst oder vergessen hatte, sondern sich im Rückblick über eine wieder mal sehr erfüllende und abwechslungsreiche Konzertwoche zu freuen und sich schon mal den Termin für das kommende Reeperbahn-Festival einzutragen, das vom 17.09. - 22.09.25 stattfinden wird.



Nachdem das gesagt ist, gibt es aber doch einen Kritikpunkt – der eigentlich leicht aus dem Weg zu räumen wäre. Und das ist die Organisation der Planungshilfsmittel. Es gab nämlich ein Mal Zeiten, da waren Zeit- und Lageplan im Web und der App synchronisiert – bzw. synchronisierbar – und wurde zudem durch gedruckte Tagespläne ergänzt. In diesem Jahr war eine Planung nur noch über die App möglich, da im Web wieder Favoriten markiert, noch auf den Lageplan zurückgegriffen werden konnte. Und dann noch etwas: Am Samstag Abend verabschiedete sich die App ins Nirvana und kehrte auch nicht mehr zurück. Nicht nur, dass ab da nicht mehr geplant oder auf die Favoriten zurückgegriffen werden konnte – auch ist nun ein Rückblick auf das Festival-Programm über die App nicht mehr möglich. Das hätte nicht sein müssen. https://www.youtube.com/@ReeperbahnFestival
Weitere Infos: https://www.reeperbahnfestival.com/


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