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MARY TIMONY

Keine Angst vor nichts

MARY TIMONY

Seit mehr als drei Jahrzehnten ist Mary Timony eine stille Gigantin und einflussreiche Konstante der US-Indie-Szene, und auch auf ihrem fabelhaften neuen Solowerk, ´Untame The Tiger´, fasziniert die inzwischen 53-jährige Musikerin aus Washington D.C. mit einer bemerkenswert großen stilistischen Bandbreite und fantasievoll vielschichtig ausstaffierten Songs, die dennoch so eigen klingen, dass sie praktisch referenzlos sind: ein Höhepunkt in Timonys an Glanzlichtern wahrlich nicht armen Laufbahn.

Mary Timony hat in ihrem bewegten Leben als Musikerin viel erlebt. Zu Beginn der 90er begann ihr Weg in der legendären Discord-Post-Punk-Band Autoclave, bevor sie als Frontfrau der ebenso bahnbrechenden wie herrlich unberechenbaren Art-Indie-Rocker Helium unsterblich wurde, als Teil der Supergroup Wild Flag an der Seite von Sleater-Kinneys Carrie Brownstein und Janet Weiss begeisterte und zuletzt als Mastermind von Ex Hex ihrem Tun mit einer explosiven Mischung aus Garage, Glam und Power-Pop neue Facetten hinzufügte, als gäbe es nichts Leichteres für sie. Während viele ihrer Peers längst vergessen haben, was sie einst dazu veranlasste, sich eine künstlerische Betätigung zu suchen, wird Timonys Musik immer noch von der gleichen unbändigen Neugier und unzähmbaren Leidenschaft wie früher angetrieben.



"Ich fand es schon immer spannend, etwas zu erschaffen", erklärt sie im Zoom-Interview mit der WESTZEIT ihr beeindruckend simples Credo. "Ich glaube, wenn ich die Musik nicht hätte, würde ich eine andere Art von Kunst machen wollen. Etwas daran ist sehr therapeutisch, denke ich. Ich genieße auch das Handwerkliche. Ich versuche, auf der Gitarre besser zu werden, mich als Sängerin weiterzuentwickeln oder ganz einfach Lieder zu lernen. Das ist ein Prozess, der mir viel Spaß macht. Trotzdem hat sich für mich auch viel verändert. Die Musik zur Karriere zu machen, bringt eine Menge Herausforderungen mit sich, und an verschiedenen Punkten in meinem Leben wurde es ziemlich schwer. Aber selbst wenn ich mit der Musik nicht viel Geld verdiene, werde ich immer einen Weg finden, das weiterzuverfolgen, denn ich mache nichts lieber!"

Mit ´Untame The Tiger´, ihrem ersten Album unter eigenem Namen seit 17 Jahren, schließt Timony dort an, wo sie mit ihren vier Solowerken in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends aufgehört hatte, wenngleich die Abkehr vom Bandformat vor allem einschneidenden Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld geschuldet ist. Die zurückliegenden Jahre beschreibt sie als "eine besonders fordernde Zeit in meinem Leben", in der sie vor allem für ihre Eltern sorgte, die beide verstarben, während sie an ´Untame The Tiger´ arbeitete: ihr Vater zu Beginn des Entstehungsprozesses, ihre Mutter, kurz bevor sie das Album vollendete. "Ich glaube, die wichtigste Lektion, die ich aus diesen Erfahrungen für meine Platte mitgenommen habe, war, keine Angst mehr vor irgendetwas zu haben", gesteht sie.

"Während ich mich um meine Eltern gekümmert habe, wurde mir bewusst, wie kurz das Leben ist, und nachdem ich das mit ihnen durchgestanden hatte, wusste ich, dass ich mit meiner Zeit hier auf der Welt einfach das tun muss, wonach mir der Sinn steht."

Beim Hören des neuen Albums wird schnell deutlich, wie ernst es Timony mit dieser Aussage ist, wenn sie – wie der Kollege Ullrich Maurer in der Album-Rezension bereits so treffend schrieb – dezente psychedelische Effekte, schwelgerische Streicher-Sätze, vertrackt verschachtelte Gitarrenvignetten, mystische Medieval- und Folk-Referenzen und locker-flockige Indie-Pop-Momente organisch zusammenfließen lässt und sich dabei von nichts oder niemandem aufhalten lässt. Beeindruckend ist dabei ist vor allem das Selbstbewusstsein, dass sie als stets virtuose Gitarristen an den Tag legt, wenngleich die Songs selbst eher ihre Verletzlichkeit betonen.

Die Arbeit an der neuen Platte war für Timony ein Anker in den schweren Zeiten, die sie durchgemacht hat, doch was genau stand für sie dabei im Vordergrund? Beschäftigt zu bleiben, eine Art von Flucht vor dem Alltag oder schlichtweg die Möglichkeit, Emotionen zu verarbeiten?

"Für mich war das Wichtigste, etwas zu tun, das ich aufregend fand", erklärt sie. "Wenn ich einen neuen Song in Angriff nehme, ganz speziell, wenn ich ein Demo davon aufnehme, dann ist das für mich genauso aufregend wie damals, wennich als kleines Kind Lego-Schlösser gebaut habe. Das ist einfach eines der besten Gefühle, die ich kenne!"

Gleichzeitig veränderte Timony aber auch ihre Herangehensweise und kommt so dem Geist ihrer früheren Alleingänge ganz nahe.

"Anstatt mir zu sagen: ‚Ich setze mich hin, um einen Song zu schreiben‘, habe ich einfach Gitarre gespielt und geschaut, was passiert", verrät sie. "Außerdem bin ich zu den Gitarrentunings zurückgekehrt, die ich bei meinen früheren Solowerken verwendet habe, auch deshalb klingt die neue Platte ähnlich."

Auch die Texte der Platte nutzt Timony, um die Geschehnisse der vergangenen Jahre zu verarbeiten, oder wie sie selbst es ausdrückt:

"Es geht darum, dass ich mich besser fühle, indem ich beschreibe, was in meinem Leben vor sich gegangen ist. Es ist fast so, als würde ich in ein Tagebuch schreiben, nur dass ich dort ständig herumjammere und wirklich zickig bin, während ich mit den Liedern versuche, meine Traurigkeit oder meine Einsamkeit in etwas zu verwandeln, das andere Menschen ansprechen könnte. Ich versuche, mit den Leuten in Kontakt zu treten. Das ist das, worum es mir wirklich geht!."

Aktuelles Album: Untame The Tiger (Merge / Cargo)


Weitere Infos: www.instagram.com/marytimony Foto: Chris Grady

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