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ST. VINCENT

Alles auf eine Karte setzen

ST. VINCENT

Annie Clark ist eine Grazie sondergleichen und holt mit St. Vincent nach zwei Alben voller Gefühl zum großen Rundumschlag aus: ´Strange Mercy´ soll den Status des Kritikerlieblings gegen flächendeckenden Erfolg eintauschen und hört man für einen Moment genauer hin, erkennt man schnell, dass die Schöpferin jede Form von Deckung aufgibt. Offen und ehrlich seien die Songs, meint Clark und ist sich bewusst, dass sie damit alles auf eine Karte setzt: Ein Risiko, dass sich auch lohnt?

Es ist Mittagszeit im Hamburger Büro ihres Labels und gerade als man checkt, dass Annie Clark planmäßig zum Dinner ansetzt, überlegt sie es sich spontan anders: „Essen kann ich auch später noch, lass uns erst mal über mein neues Album sprechen – der Rest muss warten“, bittet sie zur Begrüßung in ihr gut durchlüftetes Hotelzimmer.

Eine Menge zu besprechen gibt es tatsächlich, denn nicht nur das dritte Werk ihres Projekts St. Vincent mit dem Titel ´Strange Mercy´ steht in Startlöchern, auch abseits des Studios hat sich vieles getan: Neues Selbstvertrauen wurde getankt, alternative Wege beschritten und gewisse Barrieren eingerannt.

Letzteres bezieht sich vor allem auf Annie Clarks Live-Performance – die, laut eigener Aussage, an Qualität in den vergangenen Jahren hinzugewonnen hat: „Früher sah ich mich immer als eine Art Entertainerin auf der Bühne. Habe viele Schritte im Vorfeld durchdacht und stets darauf geachtet, nichts falsch zu machen.“

So ganz aus ihrer Haut könne sie immer noch nicht, aber ihre Rolle als Künstlerin hat sie intensiv reflektiert: „Es geht nicht darum, die Schauspielerin zu mimen, sondern einen gemeinsamen Nenner zu finden, der mich sowohl als Mensch, als auch als Musikerin auszeichnet. Lockerheit, dass ist es, was ich dazu gewonnen habe.“

Und abseits der Bühne die Gewissheit, dass das 2007 veröffentlichte Debüt ´Marry Me´ kein Glückstreffer war, sondern zwei Jahre später mit ´Actor´ bestätigt wurde – Kritikerliebling nennt man das in Fachkreisen und genau ein solcher ist St. Vincent im nunmehr achten Jahr ihres Bestehens erneut gelungen. Prinzipiell alles richtig gemacht, oder nicht?

„Ja, schon“, gibt sie schüchtern zu Protokoll und schaut auf den Tisch vor sich, „etwas fehlte mir halt bei den letzten Werken – ich konnte es lange Zeit nicht klar definieren, aber als die Arbeiten an ‚Strange Mercy’ begannen, wurde es mir klar: Ich hatte immer ein stück weit das Visier oben gelassen und mehr auf Fiktion gesetzt.“

Zwar könne man nicht behaupten, dass die aktuellen Beiträge der aus Dallas stammenden Dame wie Tagebucheinträge wirken, aber viel Erdrückendes und Einfühlsames beinhaltet ´Strange Mercy´ schon: Auch musikalisch begnügt sich der Longplayer keineswegs mit sachten Singer/Songwriter.

Vielmehr wird mit Samples, verschrobenen Tunes und manch Loop-Effekt experimentiert – was in einigen Momenten an die sanfte PJ Harvey, als auch an Soundtracks zu Filmen wie ´The Wizard Of Oz´ oder ´Stardust Memories´ erinnert. Zusammengenommen das bislang aussagekräftigste Werk im Katalog von St. Vincent und genau das macht Clark stolz.

„Es war durchaus ein Wagnis mit heruntergelassenem Visier zu arbeiten und sich bewusst dafür zu entscheiden, den teilweise schweren Songs, offene Texte gegenüberzustellen“, freut sie sich, „anderseits erschien mir alles – von Anfang bis Ende – stimmig, die Sessions machten riesigen Spaß.“

Kaum ausgesprochen, strahlt die Chefin hinter St. Vincent, als habe ihr jemand gesteckt, dass morgen Weihnachten und Neujahr auf einen Tag fallen – freuen darf sich aber nicht nur die Künstlerin selbst, auch in der Kritik wird ´Strange Mercy´ als Annie Clarks ganz persönliches Heureka Erlebnis gefeiert.

Vielleicht gelingt es diesmal sogar, dass sich noch mehr Leute außerhalb des musikalischen Blätterwalds für St. Vincent erwärmen können:

„Ich kann es eigentlich nicht hören und will mich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen – aber manche Menschen fühlen sich vielleicht abgeschreckt, wenn Journalisten einen hochjubeln?! Keine Ahnung warum, aber mit jedem weiteren Album gilt es nicht nur mir selbst gerecht zu werden, sondern auch denjenigen etwas zu bieten, die mich unterstützen und meine Konzerte besuchen. Wenn es demnächst ein paar mehr werden, freue ich mich darüber.“

Kann passieren, denn das Risiko, welches Annie Clark mit ´Strange Mercy´ einging, zahlt sich auf Albumlänge vollends aus – über den weiteren Erfolg wird die Zukunft Auskunft geben.

Aktuelles Album: Strange Mercy (4AD / Beggars / Indigo) VÖ: 09.09.

Foto: Tina Tyrell

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