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COACH PARTY

"Authentizität setzt sich immer durch"

COACH PARTY

"Hochfliegende Refrains, grungiger Wahnsinn, lebhafter Synth-Punk", "Kraftvoll und voller Charme, große Hooks, noch größere Gefühle", "Unvergessliche Melodien, die an dir pappen bleiben wie Klebstoff" – die Medien auf beiden Seiten des Atlantiks scheinen sich einig zu sein, dass Coach Party die Band der Stunde sind. Grund für die Euphorie ist "Caramel", das just erschienene stürmische zweite Album der Senkrechtstarter von der Isle of Wight.

"Man darf beim Musikmachen keine Angst haben", sagt Frontfrau Jess Eastwood im WESTZEIT-Interview, und wie es sich anhört, wenn Coach Party diese Maxime in die Tat umsetzen, kann man auf der neuen LP der britischen Senkrechtstarter hören. Die Songs auf "Caramel" verschmelzen Indie-Charme, Riot-Grrrl-Wucht und rabiaten Punk-Spirit mit einem Faible für eingängige Pop-Ohrwürmer, die keine Berührungsängste vor synthetischen Sounds und digitalen Tricks kennen und der Band als Soundtrack für die Irrungen und Wirrungen der modernen Welt zwischen Leidenschaft und Leid dienen.

Vom ersten Ton an klingt die Platte wie das Werk einer Band, die sehr genau weiß, was sie will, die aber deshalb lange noch nicht gewillt ist, Kompromisse zu machen, um eine Abkürzung auf dem Weg zum erhofften Ruhm zu nehmen. Coach Party sind sich bewusst, dass das Leben Ecken und Kanten hat – und so klingen auch ihre Songs: In etwas mehr als einer halben Stunde jagt die Band auf "Caramel" durch zehn Songs. Kein Wunder, dass die Platte bereits als "30-minütiger Exorzismus" beschrieben worden ist!

Sängerin/Bassistin Jess und Gitarristin Steph Norris machen schon seit rund zehn Jahren gemeinsam Musik. Anfangs noch im Duo als Jeph, schon bald aber gemeinsam mit Gitarrist Joe Perry und Drummer Guy Page als Coach Party. Mit drei zu Pandemie-Zeiten erschienenen EPs konnte die Band daheim in Großbritannien praktisch aus dem Stand viel Staub aufwirbeln – und sich, sobald das wieder möglich war, mit der chaotischen Energie ihrer Konzerte schnell einen Ruf als eine der aufregendsten neuen Bands von den britischen Inseln erspielen.

Das mitreißende Debütalbum "Killjoy" trug die vier dann im Jahre 2023 um die ganze Welt. In Deutschland waren Coach Party als Support der ebenfalls von der Isle of Wight stammenden Überfliegerinnen Wet Leg zu sehen, mit denen sie zumindest künstlerisch inzwischen längst auf Augenhöhe sind. Als Jess wenige Tage vor der Veröffentlichung des neuen Albums beim Gastspiel auf dem Reeperbahn-Festival Coach Party die "Beste Band von der Isle of Wight" nennt, tut sie das zwar mit einem Augenzwinkern, aber in jedem Scherz steckt bekanntlich ein Funken Wahrheit. Gar nicht so schlecht für eine Band, deren simples Erfolgsrezept es anfangs war, keines zu haben.

"Als wir 2016 angefangen haben, waren wir noch sehr jung und hatten keine konkreten Ziele, weil wir gar nicht wirklich wussten, was wir eigentlich tun", gesteht Jess. "Ich erinnere mich aber, dass ich einfach ein Teil dieser britischen / kanadischen / amerikanischen Indie-Musikszene sein wollte, zu der für mich Leute wie Snail Mail, The Magic Gang, The Big Moon oder Alvvays zählten. Ich wollte dazugehören und sie als unsere Kolleginnen und Kollegen haben. Ich wollte in einem Raum mit diesen Leuten wahrgenommen werden – das war immer mein Ziel. Allerdings haben sich die Zeiten geändert. Die Musikindustrie hat sich in der kurzen Weile, in der wir dabei sind, gewandelt. Ich denke, es geht uns jetzt einfach darum, beständig zu sein, denn gerade derzeit ist es sehr schwer, in der Musikindustrie zu bestehen. Zu beweisen, dass wir die Zeit überdauern können, ist deshalb im Moment unser Ziel."

Damit schwimmen Coach Party gewissermaßen ein Stück weit gegen den Trend. Während Bands, Label und Promoter allenthalben nur auf den schnellen Erfolg schielen und deshalb vor allem Trends hinterherhecheln, denken Jess und Co. eher langfristig. Gleich der erste Song der neuen LP, die stadiontaugliche Alternative-Rock-meets-Electroclash-Hymne "Do It For Love", kreist um die Thematik, für die Band alles geben zu wollen (und zu müssen) und dafür als Gegenleistung außer ein bisschen Liebe oft sehr wenig zu erhalten. Fast hat man das Gefühl, dass Acts wie Coach Party das Bandleben eher als Lifestyle denn als Job betrachten müssen, um nicht vollends den Glauben zu verlieren.

"Auf seltsame Weise fühlt es sich wie eine Mischung aus Lifestyle und Job an, denn es gibt Dinge, die ich nicht tun möchte, aber jetzt tun muss", erklärt Jess. "Aber das sind alles Klassiker, zum Beispiel, dass man heutzutage in den sozialen Medien sehr aktiv sein muss. Ich finde das sehr ermüdend, und das fühlt sich wie ein Job an. Aber immer, wenn wir unterwegs sind und Musik schreiben, fühlt sich das wie der Lebensstil an, den ich ganz bewusst gewählt habe, und das gibt mir immer noch ein gutes Gefühl."

Das kann man auf Caramel" auch hören. Mitreißend wie konfrontativ ist die LP vollgetopft mit facettenreichen Alternative-Rock-Bangern, in denen Ambitionen und Eingängigkeit, Frustration und Mitgefühl verschmelzen. Geschrieben von allen vier Bandmitgliedern und produziert – wie alle früheren Veröffentlichungen auch – von Drummer Guy, nutzen Coach Party hier ihr "Killjoy"-Debüt als Sprungbrett, vergessen aber gleichzeitig nicht, was sie in der Vergangenheit ausgezeichnet hat.

"Wir vier teilen die Liebe zur Gitarrenmusik und zu heavy music, deshalb wollten wir für dieses Album nicht zu viel verändern", erklärt Jess. "Auch wenn wir in einer Welt leben, in der alles vergänglich und wegwerfbar ist, so hoffe ich doch, dass diese Schnelllebigkeit nur eine Phase ist, und dass wir als Gesellschaft irgendwann an den Punkt kommen, an dem es wieder zählt, etwas zu machen, das die Zeit überdauert. Wir wollen für unseren Sound bekannt sein, und wir wollen klar definieren, was dieser Sound ist. Daher ist es für uns wichtig, dass wir uns weiterentwickeln, dass wir aber trotzdem auch erkennbar wir bleiben."

Das gilt für die hyperventilierende Leadsingle" Girls", deren Schlachtruf "Where the fuck are my girls?" wie gemacht dafür scheint, auf Häuserwände gesprüht zu werden, genauso wie für "Disco Dream" (mit Black Honeys Izzy Bee Phillips als Featured Artist), das besser als keine andere Nummer das neue Selbstbewusstsein des Quartetts symbolisiert. Allerdings gibt es auch Songs wie "I Really Like You" oder den zumindest klanglich versöhnlichen Ausklang "Still Hurts", mit denen Coach Party, ähnlich wie vor ihnen Wolf Alice, die Möglichkeiten jenseits eines brachialen Wall of Sounds entdecken.

Tatsächlich zeichnet sich "Caramel" durch eine neue klangliche Offenheit aus, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass alle vier ihre musikalischen Ideen, aber auch ihre individuellen Erfahrungen der letzten Jahre in den Songwriting-Prozess eingebracht haben. Auch deshalb ist es für die Bandmitglieder vollkommen selbstverständlich, dass alle sich die Songwriting-Credits teilen. Ungewöhnlich ist bei Coach Party zudem die Rollenverteilung. Während meistens die Frontleute die Gitarren spielen und die Rhythmusgruppe oft austauchbar erscheint, sorgen hier Frontfrau Jess als Bassistin und Schlagzeuger Guy als Produzent dafür, dass es eine andere Art von Gleichgewicht, eine andere Dynamik gibt.

"Wir haben immer gesagt, dass wir aufhören, wenn jemand von uns sich entscheiden würde auszusteigen", erinnert sich Jess. "Wir vier sind Coach Party, und wenn einer von uns ginge, wäre es Zeit, abzutreten. Ich glaube, dieses Wissen gibt uns mehr Selbstvertrauen in Bezug auf unsere Identität. Das hilft uns, unseren Sound zu entwickeln, weil wir wissen, wer wir sind."

Das gilt nicht zuletzt auch für die Texte, denn auch dort weiß Jess sehr genau, wonach sie Ausschau hält.

"Letztendlich suche ich nach Gefühlen", erklärt sie. " Ich liebe es, Dinge zu fühlen, wenn ich Musik höre und wenn ich Musik schreibe. Die Songs, die mir am meisten bedeuten, sind diejenigen, die mich am meisten fühlen lassen. Nehmen wir zum Beispiel mal 'Georgina' auf dem neuen Album. Der Song handelt von meiner Therapeutin und meinem Kampf mit meiner psychischen Gesundheit. Es gab eine Zeit, in der ich ihn mir nicht anhören konnte, weil er zu sehr an das erinnerte, was ich in diesem Moment empfand. So etwas zu fühlen ist wichtig."

Wenn sie dagegen darüber nachdenkt, welche Reaktion die Songs beim Publikum auslösen sollen, neigt sie zu zwei Extremen:

"Ich möchte, dass die Leute entweder die Musik hören und nichts fühlen müssen, weil sie sich in der Musik verlieren, oder dass sie Musik hören, um sich selbst zu therapieren und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu spüren. Wenn jemand das beim Hören dieser Songs empfinden kann, dann haben wir unsere Aufgabe erfüllt."

Dabei geht es Jess allerdings nicht allein um den kathartischen Moment, sich Dinge von der Seele zu schreiben.

"Vor ein paar Jahren hätte ich vielleicht gedacht, dass es reicht, es einfach rauszulassen, aber mit zunehmendem Alter geht es mir mehr um Verarbeitung und darum, eine Lösung zu finden", sagt sie. "Ich befinde mich an einem Punkt, an dem es eine Mischung aus beidem ist, würde ich sagen!"

Vielleicht auch deshalb sind es nicht unbedingt die Singles des neuen Albums, die Jess am meisten bedeuten.

"Ich glaube, Authentizität setzt sich immer durch", sagt sie. "Ich kann mich definitiv mehr mit den Albumtracks identifizieren, aber das liegt einfach daran, dass die Singles so energiegeladen sind und nur eine Seite der Platte zeigen. Vielleicht fühle ich mich deshalb vor allem zu der Seite hingezogen, die andere Leute vor der Veröffentlichung des Albums noch nicht gehört haben, und ich wünsche mir, dass es den Leuten genauso geht, wenn sie sie hören. Das ist meine heimliche Hoffnung."

Apropos Hoffnungen: In der Vergangenheit sind Coach Party als Supportact für Bands wie Queens Of The Stone Age oder Bombay Bicycle Club in Arenen und als Special Guest von Indochine sogar in Fußballstadien aufgetreten. Hat die Band jetzt Blut geleckt, oder ist Jess und Co. der direkte Draht zum Publikum in kleinen Clubs trotzdem noch lieber?

"Ich würde viel lieber fünf Nächte in einem sehr kleinen Laden spielen wollen als in einem Stadion", erwidert sie. "Aber natürlich träumen alle insgeheim davon, in Arenen und Stadien aufzutreten. Das wäre der Wahnsinn! Auch wenn es etwas ganz Besonderes ist, eine Verbindung zum Publikum aufbauen zu können: Ich würde niemals Nein sagen, wenn wir ein Stadion ausverkaufen könnten. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich beides machen wollen!"

Im Februar und März geht es für Coach Party auf eine ausgiebige Headline-Tournee durch Großbritannien und das europäische Festland. In Deutschland sind Club-Konzerte in Köln, München und Berlin geplant, und auch sonst kreisen Jess' Zukunftspläne für Coach Party vor allem um das Live-Spielen.

"Mein Traum ist es, dass mehr Leute das neue Album hören und wir mehr touren können", sagt sie. "Im Moment spielen wir mit dem Gedanken, in Amerika aufzutreten, aber weil alles so teuer ist, sind wir noch unentschlossen. Wir müssen realistisch sein, was die Kosten angeht, aber hoffentlich gefällt das Album den Leuten so gut, dass wir uns das leisten können. Kurzfristig hoffe ich, dass die Tour, die wir im Februar starten, ausverkauft sein wird." Sie hält kurz inne und muss lachen. "Langfristig dürften es dann aber durchaus Arenen und Stadien sein!"

Aktuelles Album: Caramel (Chess Club Records)


Weitere Infos: https://coach-party.com Foto: Josh Edits

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