
Antikapitalistisch, kritisch, feministisch: Auf ihrem Debütalbum ´Self-Centred And Delusional´ übersetzen The Red Flags ihr politisches Gewissen in zwölf mitreißende Songs, die klanglich all das streifen, was Punk, Grunge und Alternative Rock in den letzten 50 Jahren aufregend gemacht hat – doch das ist nicht das Einzige, was das junge Quartett aus Köln besonders macht. In Zeiten, in denen die Rock-Szene und ganz besonders die großen Festivalbühnen immer noch von männlichen Acts beherrscht werden, zeigen Polly (Gesang, Gitarre), Murphy (Leadgitarre), Joe (Bass) und Mika (Schlagzeug), dass es auch anders geht.
Von der Aula ihrer Schule auf die große Bühne bei Rock am Ring: Was unzähligen Bands nie oder erst nach vielen Jahren gelingt, haben The Red Flags bereits geschafft, bevor sie ihr erstes Album aufgenommen haben. Zugegeben, der Zufall hat ein bisschen nachgeholfen, aber schließlich ist bei den meisten großen Karrieren irgendwann ein bisschen Glück im Spiel.Gestartet als Schulband, die bei ihren ersten Auftritten mehr schlecht als recht ein paar Coverversionen spielte, hatten The Red Flags trotz des zunächst noch überschaubaren instrumentalen Könnens – gelernt hatten sie ihre Instrumente praktisch über Nacht – von Beginn an so viel Spaß am gemeinsamen Musikmachen, dass Aufhören keine Option war. Auch wenn sie rückblickend selbstkritisch über ihre Anfänge sagen: "Eigentlich hätte man sich so nicht auf eine Bühne trauen sollen", konnten die vier nicht viel später Abschlussfeiern und Oberstufenpartys gegen Auftritte in echten Clubs und erste DIY-Singleveröffentlichungen eintauschen, bevor es letztes Jahr einen unerwarteten Karriereschub gab.
Eigentlich hatte Schlagzeugerin Mika nur die Aufzeichnung von Jan Böhmermanns "ZDF Magazin Royal" live im Studio miterleben wollen, aber letztlich katapultierte das "Lass dich überwachen"-Format des Satirikers die Band erst in dessen Sendung und dann für einen Gastauftritt vor 80.000 Menschen auf die Bühne bei Rock am Ring. Einen Gutschein für Aufnahmen mit Tausendsassa Moses Schneider (Tocotronic, Turbostaat, Beatsteaks) gab es noch obendrauf.
Obwohl man nicht den Fehler machen sollte, The Red Flags auf diese Schlagzeilen zu reduzieren, spielen die Erfahrungen des letzten Jahres für die vier dennoch eine Rolle, wenn es darum geht, die Meilensteine in der bisherigen Bandkarriere zu benennen.
"Rock am Ring war auf jeden Fall so eine Sache für mich, weil das natürlich eine Bühne war, die wir so noch nicht kannten", erinnert sich Polly. "Das war ein Einblick in eine mögliche Zukunft – da könnte man hinkommen. Ganz krass war auch die Zusammenarbeit mit Moses im Studio, und dass wir die Möglichkeit hatten, auf einer so professionellen Ebene die eigene Kunst zu etwas Festem, etwas Greifbarem zu machen."
"Für mich ist es einfach jede Person, die nach einer Show gekommen ist und gesagt hat: 'Hey, das war mega-cool!'", fügt Joe hinzu. "Ich weiß noch, dass ich es beim ersten Mal kaum glauben konnte! Mittlerweile ist das ein bisschen zur Normalität geworden, aber es macht mich immer noch genauso glücklich!"
Dass The Red Flags auf dem richtigen Weg sind, war allerdings eigentlich schon vor dem Böhmermann-Hype klar. So gewann die Band im Mai 2024 den deutschlandweiten SPH-Music-Masters-Wettbewerb und konnte dabei nicht nur die Jury überzeugen, sondern vor allem auch beim Publikumsvoting abräumen.
"Beim Finale waren gar nicht so viele Leute für uns da, aber irgendwie haben wir dort sehr, sehr viele Menschen im Publikum überzeugt", erinnert sich Murphy. "Das war in der Kantine vor 700 Leuten, das war der mit Abstand größte Gig, den wir je gespielt hatten. Obwohl für uns vielleicht nur 50 Leute da waren, haben wir das dann gewonnen. Das war für mich der Zeitpunkt, an dem ich wirklich überzeugt war, dass Leute das toll finden, was wir machen, weil wir uns dort gegen Bands behauptet haben, die viel älter waren und viel mehr Leute mitgebracht hatten."
Polly ergänzt: "Die erste Runde des Wettbewerbs war unser allererstes Konzert in einem richtigen Club, das erste, was nicht Schulaula oder Jugendzentrum war. Unser Mindset vor der ersten Runde war: Okay, natürlich kommen wir nicht weiter, aber 50€ Mitmachgebühr lohnt sich vielleicht für die Erfahrung, einmal in einem richtigen Klub spielen zu dürfen – und dann haben wir das deutschlandweit gewonnen!"
Doch nicht nur das Publikum bei den Konzerten war vom Fleck weg begeistert. Auch Menschen mit viel Renommée in der Musikindustrie ließen sich spontan von der elektrisierenden Energie der Band anstecken.
"Gestern war Molly, die Chefin unseres Labels, zum ersten Mal bei einem Konzert von uns, und danach hat sie gesagt: 'Wenn ich euch nicht schon gesignt hätte, würde ich es jetzt tun!'", verrät Mika.
Molly Mönch von Audiolith ist allerdings nicht die Einzige, die nicht lange zögerte. Humberto Pereira von der Booking-Agentur KKT nahm die Red Flags unter Vertrag, ohne sie vorher live gesehen zu haben, und Moses Schneider sagte – übrigens pro bono - die Albumproduktion zu, noch bevor er einen Song gehört hatte. Eigentlich hätte er ja nur eine Single produzieren sollen, aber weil die Band zu diesem Zeitpunkt bereits ein Album fest im Blick hatte, ließ er sich überreden, gleich die ganze Platte mit zwölf Songs aufzunehmen.
Eigenspielt wurde ´Self-Centred And Delusional´ innerhalb weniger Tage mit herrlicher Live-Intensität und ohne den heute eigentlich allgegenwärtigen, Perfektion suggerierenden Clicktrack. Kein Wunder also, dass Joe auf die Frage nach den wichtigsten Lektionen aus den Aufnahmen mit Schneider antwortet:
"Für mich habe ich gelernt, dass es eine Daseinsberechtigung fürs Fehlermachen gibt, dass es kein Weltuntergang ist, wenn mal ein Ton nicht sitzt. Ich glaube, das ist etwas, das mich immer begleiten wird."
"Nachdem wir einen Take aufgenommen haben, hat Moses nie gesagt: 'Das war super' oder 'Das war perfekt'", erinnert sich Mika. "Er hat immer so etwas gesagt wie: 'Die Version hatte ein breites Lächeln' oder 'Das war super-charmant'. Da hat man gemerkt, dass es nicht darum geht, dass es perfekt ist, sondern darum, dass man uns hört und dass es authentisch ist."
Entstanden ist dabei eine Platte, die in Songs wie ´Little Girl´ oder ´Central Station´ die raue Punk-Energie einfängt, die The Red Flags bei ihren Auftritten verströmen, bei ´I’m Just A Kid´ oder dem heimlichen Highlight des Albums, ´Made Of Glass´ , aber auch ein feines Händchen für poppige Melodik offenbart und beim knapp siebenminütigen Schlusssong ´Solar System´ zwischen Psychedelik und Grunge zeigt, dass die vier auch ein Faible für das Spiel mit der Dynamik zwischen laut und leise haben. Makellos ist das Album nicht, aber das war eben auch nie das Ziel. Vielmehr ging es den Red Flags darum, ihre Gefühle, ihre Message so echt, so direkt wie möglich festzuhalten – und in dieser Hinsicht trifft ´Self-Centred And Delusional´ voll ins Schwarze.
Klanglich zeichnen die Songs der LP die Entwicklung der Band in den letzten drei Jahren nach. Die Anfänge mit soften Singer/Songwriter-Liedern hallen noch in ´I'm Just A Kid´ nach, während der neueste Song auf der Platte, ´Pacify´, die Band von ihrer wildesten Seite zeigt, oder anders gesagt: The Red Flags setzen auf dem Album genau da an, wo die Musikhistorie zwischen Nirvana, Hole und den Pixies oder auch zwischen The Raincoats, The Slits und Bikini Kill noch die ein oder andere Lücke hat, und tragen die Ideen von gestern in die Gegenwart. Doch was macht für die vier den Reiz an diesem Sound aus?
"Ich finde, die ganze Grungebewegung damals war halt so echt und irgendwie unverstellt und natürlich auch schon davor die Punk-Bewegung. Das ist etwas, was ich sehr wichtig finde und was wir auch haben wollen, diese Authentizität", antwortet Mika, und Polly sagt: "Das ist einfach eine ganz andere Form von Gefühle-Rüberbringen, weil es so echt ist und so roh und viel mehr zu Herzen geht als die aktuelle Popmusik. Dazu kommt natürlich auch die ganze Ästhetik, die Visuals und dass man so edgy sein kann, so dreckig, und dass man sich auch aktiv abgrenzt von gesellschaftlichen Normen. Das ist ja das ganze Ding bei alternativer Musik, und ich denke, das ist einfach etwas, mit dem wir uns alle schon immer so ein bisschen verbunden gefühlt haben."
Laut, roh und wild überrollen The Red Flags ihr Publikum mit punkiger Aggressivität, grungiger Wucht und wütenden Riot-Grrrl-Vibes, wenn sie ihre Gedanken, ihre Ängste und ihren Zorn in sendungsbewussten Texten über Sexismus, Identität, soziale Ungleichheit, Leistungsdruck oder mentale Gesundheit kanalisieren. Die Texte entstehen bisweilen spontan aus einer Emotion heraus, sind aber, gerade wenn es darum geht, gesellschaftliche Missstände auf den Punkt zu bringen, oft auch Produkt eines längeren Prozesses. Da muss natürlich die Frage erlaubt sein: Geht es nur um die Verarbeitung dieser Themen, oder kann Musik, gerade heute, die Welt verändern oder zumindest im Kleinen etwas bewegen?
"Ich denke schon, dass Musik was bewirken kann, weil politische Texte ja auch zum Denken anregen und vielleicht Leute mobilisieren können", sagt Polly. "Ich kenne das von vielen Leuten – und das ist bei mir auch nicht anders –, dass man teilweise seine politischen Ansichten oder Erkenntnisse über gesellschaftliche Zustände aus Musik zieht, die diese Themen anspricht. Deshalb kann das einen Effekt haben, aber es ist natürlich nicht genug. Ich glaube, dass Musik vor allem Denkanstöße gibt, aber dann muss natürlich trotzdem noch gehandelt werden."
"Ich glaube, der Wunsch, etwas zu verändern, ist auf jeden Fall bei uns allen da", ergänzt Murphy. "Es ist halt immer so eine Frage, ob man sich erhofft, dass wirklich Leute durch unsere Texte ihr Mindset verändern. Aber an sich ist schon der Gedanke da, mehr machen zu wollen, als das nur zu verarbeiten, sondern auch Leute zum Denken anzuregen."
Aktuelles Album: Self-Centred And Delusional (Audiolith / Broken Silence)
Weitere Infos: www.theredflags.de Foto: Lisa Ordemann