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CASPER

Halb gezeichnet - halb weißes Papier

CASPER

´Hinterland´ ist das insgesamt dritte Soloalbum des Rappers Casper, der sich nach dem ganz großen Durchbruch mit ´XOXO´ einmal mehr musikalisch neu erfindet. Casper - ein Chamäleon? Ein Verwandlungskünstler? Das kann mit Fug und Recht gesagt werden. Aber das war er eigentlich schon immer. Denn der puristische Rapper, der war Casper nie. Ein Grenzgänger auf dem schmalen Grat der Genregrenzen auf jeden Fall.

Bandorientierter

Das erste Auffällige an Caspers neuen Stücken ist die Weiterentwicklung in Richtung Bandorientierung.

„Was ist vorher gemacht habe, war ein hemmungsloses Einsammeln von Beats bei diversen Hip Hop-Produzenten“, klärt Casper auf, „für ‚XOXO’ haben wir diese Basisklänge im Studio für eine Band umgeschrieben. Doch fand auch sehr, sehr viel Computergefrickel den Weg auf die Platte. Die Computermöglichkeiten sind eben verführerisch unbegrenzt. Und wir mussten unglaublich aufpassen, dass die Arbeit nicht nur eine Nutzung dieser Möglichkeiten war, sondern dass jede Entscheidung dennoch künstlerische Substanz hatte.“

Doch ist jedes aufgenommene Stück nichts anderes, als die Konservierung eines Augenblicks. Und eine vollständige Platte ist eben eine Ansammlung dieser Augenblicke. Das einzelne Lied unterliegt genau so dem Einfluss der voran schreitenden Zeit, wie ein komplettes Album. Der schreibende Musiker bleibt von diesem Fortschreiten auf dem Zeitkontinuum ebenfalls nicht verschont.

„Ich höre jetzt ganz andere Musik, als noch zu Zeiten von ‚XOXO’“, fährt Casper fort, „Americana und viel so angefolktes Zeug rotiert derzeit auf meinem Plattenteller.“

Handgemachte Musik, wie man landläufig wohl dazu sagt. So liegt es sehr nahe, die Lieder doch gleich so zu schreiben, dass die Casper-Band sie gleich spielen kann, ganz ohne den Sample- und Neukompositionsumweg.

„Es ist gleich beim ersten Hören des Ergebnisses viel direkter, viel energetischer“, weiß Casper, „schließlich muss ich einerseits zugeben, dass natürlich jede weitere Durchlaufstation einem Stück Leben, Gradlinigkeit und Durchschlagskraft entzieht. Andererseits muss ich aber auch zugeben, dass ich trotzdem auf das Gefrickel nicht verzichten konnte. Das liegt einfach an meiner Art im Studio zu arbeiten. Da hat die Band schon längst alles eingespielt und sitzt beim Abendessen, da sitze ich noch die halbe Nacht im Studio und befasse mich mit dem eingespielten Material.“

Casper ist auch nach eigener Aussage sprunghafte und verkopft, besonders eben, wenn es um Perfektion geht.

„Ich setze mich dann hin, rauche eine Zigarette und dann noch eine und werfe alles bisher Erreichte über den Haufen“, lacht er, „zerpflücke jedes Lied bis in seine kleinsten Einzelteile und setzte das Puzzle neu zusammen. Und dann fällt mir schon völlig zermürbt auf, dass ich den Takt ja auch noch änderungswürdig finde. Und am Ende saß ich vor einem riesigen Haufen von nichts.“



Starke Idee

Die große Fähigkeit Caspers ist die, dass bei all’ dem Hin und Her sein ausgeprägtes Gespür für die starke Idee seiner Stücke ihn nie trügt. Da kann er frickeln und machen solange er will. Aber ganz ohne Hilfe von außen war das nicht zu bewerkstelligen. Diese Unterstützung kommt von einem Produzentenduo, das gegensätzlicher nicht sein könnte: Markus Ganter und Konstantin Gropper. Der erste zeichnet unter anderem für das Debüt der Band Sizarr verantwortlich, der andere ist der Mann hinter Get Well Soon.

„Es war zugegebenermaßen eine nervenaufreibende Produktion“, blickt Casper zurück, „denn die beiden Produzenten mussten ja den ganzen Mist wieder gerade biegen, den ich da im Studio veranstaltet habe. Aber selbst dieses Geraderücken haben sie auf eine Art und Weise gemacht, dass es eben nicht perfekt klingt. Menschlich. Persönlich. Seelenvoll. Da durfte der kleine Stolperer mal drin bleiben. Da durfte hier und da ein Halbton daneben klingen. Manche Stücke wurden so nur halb gezeichnet und halb blieb weißes Papier.“

Mögen viele Caspers tiefe, persönliche Textoffenbarungen für seinen übermäßigen Erfolg verantwortlich machen, so dürfen seine musikalische Kantigkeit, seine rauen Flächen oder seine nicht bis ans letzte Ende ausformulierten Noten in ihrer Wirkung nicht vergessen werden. Denn gerade diesen halben Zeichnungen, diese atmosphärisch halbleeren weißen Blätter, die reiten den Hörer das Offengelassene selbst mit eigenem Inhalt zu füllen. Sich selbst mit ihrem eigenen ich einzubringen. Und erst so haben auch schon auf ´XOXO´ die Lieder nicht nur Knospen getrieben, die Hörer haben sie durch ihre selbst eingebrachte Wärme voll zum Blühen gebracht. Damit das auch in der Zukunft klappt haben Casper und sein Produzentenduo auf ´Hinterland´ erneut die Saat bereitet.



Absolute Helden

Bei zwei Stücken, nämlich ´Lux Lisbon´ und ´Ganz schön okay´ gesellen sich Gastmusiker dazu.

„Ein paar absolute Helden von mir“, konstatiert Casper, „totaler Wahnsinn.“ Was bei dem Künstler den totalen Wahnsinn auslöst, sind Kraftklub und Tom Smith, seines Zeichens Frontmann bei den Editors. Die Kooperation mit Kraftklub ist ja eher nahe liegend, die mit Tom Smith ist es hingegen nicht und ist erklärungsbedürftig.

„An der Editors-Platte ‚An End Has A Start’ hat mich das Düstere, das Schlagzeuggetriebene absolut begeistert“, verweist Casper auf die Hintergründe der Zusammenarbeit, „diese Begeisterung habe ich bei den 100.000 Interviews zur ersten Platte immer wieder heraus posaunt. Irgendwie ist das auch nach England durchgedrungen. Irgendwann kam zurück, dass Tom Smith jetzt bereit wäre, sich mit anderen zum Schreiben zu treffen. Da bin ich fast durchgedreht und habe wie ein Blöder Liedskizzen geschrieben.“

Die hat Casper nicht nur geschrieben, die hat er letztendlich dann auch losgeschickt.

„Was ich inständig gehofft, aber nie zu glauben gewagt hätte, trat ein, Tom Smith fand die Sachen gut“, freut Casper sich heute noch sichtbar, „da wir beide nicht wirklich Anhänger von diesem mp3-Rumgeschicke sind, war schnell klar, wir müssen uns persönlich begegnen, um gemeinsam aufzunehmen.“

Tom Smith kommt für ein paar Tage nach Berlin. Gemeinsam nehmen sie vier Lieder auf. Jedes der Lieder hat sein Gutes, doch irgendwie sind beide unzufrieden.

„Bei dem einen Stück fanden wir die Gitarre gut, beim anderen das Schlagzeug, beim dritten dann den Gesang und dann wieder das Piano“, erinnert sich Casper, „so wurde aus den Vieren einer. Und als die Musik dann endgültig steht, werden die Refrains neu eingespielt und dann ist ‚Lux Lisbon’ fertig. Und es strahlt.“



Nicht nur ´Lux Lisbon´ ist fertig, das Album „Hinterland“ auch. So sehr Casper mit ´XOXO´ durch das tiefgründige Vermessen seiner Person, ihren Höhen und Tiefen den Nerv einer ganzen Generation getroffen hat, so sehr muss diese Generation nun mit ihm wachsen, sich mit ihm transformieren. ´Hinterland´ ist ein Album voll geladen mit Aufbruchsstimmung, eins das vom Unterwegssein erzählt und eins, dass sich damit auseinandersetzt, dass dazu auch schon mal das Warten auf ausbleibende Ereignisse gehört. Der Startpunkt ist noch im Blick, das neue Ufer noch nicht erreicht. Und wie heißt es so schön in „“? „Am Ende ist alles gut/und wenn es nicht gut ist/kann es nicht das Ende sein.“ Genau so, wie Casper früher Beats gesammelt hat, sammelt er nun Eindrücke aus diesem Auf-und-davon, die er mit mächtigen Klangwänden auflädt, mit denen er Wendungen und Drehungen eines Lebens im Übergangsstadium illustriert. Und es wird auch in Zukunft nichts an Caspers Statement ändern, welches da lautet: „Es gibt genug Leute, die meine Lieder hassen und mich am liebsten von der Bühne schlagen würden. Aber es gibt eben auch viele Menschen, die meine Songs lieben.“ Casper schafft mit „Hinterland“ ein mächtiges und hypnotisches Album gleichzeitig, dem sich niemand entziehen kann. Auch die Hasser nicht.

Aktuelles Album: Hinterland (Four Music/Sony Music)

Foto: Olaf Heine

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