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JOAN SHELLEY

„Ich mag es, wenn alle die Melodien mitsummen können“

JOAN SHELLEY

Ein eleganter Trostspender in schwierigen Zeiten: Auf ´The Spur´, ihrem inzwischen siebten Album, zeichnet die amerikanische Singer/Songwriterin Joan Shelley ihr Leben in den letzten Jahren nach und verbindet Charakterstudien mit Naturmetaphern, wenn sie sich unterstützt von ihren langjährigen Mitstreitern James Elkington und Nathan Salsburg und hochkarätigen Gästen wie Bill Callahan, Meg Baird oder Spencer Tweedy den drängenden Fragen unserer Zeit widmet, ohne das Publikum belehren zu wollen.

Tod und Erneuerung, Romantik und Rückzug, Selbstzweifel und die Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel sind einige der Themen, die Joan Shelley auf ´The Spur´ unter das Mikroskop legt. Die bemerkenswerte Gelassenheit, mit der die36-jährige Musikerin dabei zu Werke geht, lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass sie schon vor der Pandemie mit dem Gedanken gespielt hatte, einiges in ihrem Leben zu verändern. Während andere Künstlerinnen und Künstler durch COVID jäh aus ihrem Trott gerissen wurden und ihre Pläne von heute auf morgen zu Staub zerfallen sahen, hatte die unweit von Louisville in Skylight, Kentucky, heimische Musikerin eh geplant, nach der Veröffentlichung ihres Albums ´Like The River Loves The Sea´ im Jahre 2019 kürzerzutreten. Nachdem sie zuvor den Großteil ihres Lebens unterwegs verbracht hatte, stand ihr der Sinn nach mehr häuslicher Beschaulichkeit und familiärer Nähe. Sie heiratete Nathan Salsburg, der seit Langem auf der Bühne wie im Leben ihr Partner ist, wurde Mutter einer Tochter und kümmerte sich eine Weile lieber um die Ziegen und Hühner ihrer Farm als um ihre musikalische Karriere.

Diese Veränderungen klanglich und inhaltlich Spuren auf der neuen LP hinterlassen. Ohne das Band zur Vergangenheit vollends zu zerschneiden, unterstreicht Shelley jetzt, dass sie nicht allein als Folk-Sängerin gesehen werden will.

„Ich habe die Schnittstelle von Folk und anderen Genres schon immer geschätzt“, sagt sie im Westzeit-Interview. „Ich habe unglaublich viel Respekt für traditionelle Musik, und mir ist bewusst, dass es eine Art von Revival ist, wenn ich in die Folkmusik eintauche. Das wird dann in gewisser Weise zu einem Kunstprojekt, ich mag allerdings am liebsten Musik, die keine Kunst ist, denn das erscheint mir zu exklusiv. Ich mag es, wenn alle die Melodien mitsummen können, denn ich denke, das gibt den Songs ein längeres Leben."

Auf ´The Spur´ ersetzt deshalb des Öfteren das Klavier die Gitarre als das tonangebende Instrument, nachdem sich Shelley lange gescheut hatte, sich an das Piano auch bei Studioaufnahmen heranzuwagen.

„Das Klavier spielt auf vielen meiner Lieblingsplatten eine Rolle“, verrät Shelley. „Zuvor habe ich allerdings stets gedacht, dass man ´Pianist´ sein muss, um es bei Plattenaufnahmen zu spielen. Irgendwann hat es dann einfach klick gemacht: Ich bin ja auch keine ausgebildete Gitarristin, ich mache das einfach, also kann ich das auch am Klavier tun. Ich traue mir selbst zu, in der Lage zu sein, den Rhythmus und die Nuancen im Griff zu haben, ohne zu perfektionistisch zu sein, weil es für mich ja tatsächlich ein neueres Instrument ist. Letztlich wurde mir einfach bewusst, dass ich viele Platten mag, die stimmungstechnisch in diese Richtung tendieren, und dass ich nicht mehr so kleinlich sein sollte."

Ganz nebenbei verhindert sie durch das erweiterte Klangspektrum und die vergrößerte emotionale Bandbreite, sich zu wiederholen. Das gilt auch für die Streicher, die zwar kein grundlegend neues Element, dieses Mal aber anders eingesetzt sind. War für Shelley bei ´Like The River Loves The Sea´ noch wichtig, sich von der Melodramatik fernzuhalten, die Streicher oft heraufbeschwören, haben sie nun von Beginn an eine andere Aufgabe.

„Ich erreichte einen bestimmten Punkt, an dem ich wusste, dass ich mich von meiner alten Sichtweise abwenden wollte“, erklärt sie. „Es gibt im ersten Song, ´Forever Blues´, die Zeile ´High as the clouds / When we named them our mountains´. Das war für mich eine Art romantischer Eskapismus, der für mich ein ähnliches Gefühl heraufbeschwört wie Streicher. Ich fragte mich, was Berge mit unserer Psyche machen, ähnlich wie Architekten, wenn sie Flächen mit großen offenen Bögen gestalten. Ich wollte an dieser Stelle ein Gefühl von Erhöhung verspüren, und ich wollte es auch mit anderen teilen, weil unsere Stimmung so lange so gedrückt war. Also habe ich es in Angriff genommen!"

Auf ´The Spur´ gibt sich Shelley als moderne Traditionalistin, die vor Sounds und Tugenden des Hier und Jetzt nicht zurückschreckt, gleichzeitig aber auch alles mag, was leicht verwittert und verschlissen ist und mit ener gewissen Patina versehen ist. Kevin Morby erzählte kürzlich in einem Interview, dass er sich von einem gewissen Retro-Sound angezogen fühlt, weil die Vergangenheit für ihn einen sicheren Ort darstellt, einen Schutz vor den Katastrophen und dem Chaos der Gegenwart. Ist das für Shelley ähnlich?

„Ich liebe den Sound aus der Zeit, in der Künstlerinnen und Künstler noch klassische Soundstages zur Verfügung hatten, denn das gibt den Aufnahmen eine gewisse cineastische Qualität, sie transportieren dich an einen anderen Ort, sie haben dieses Unwirkliche, ohne zu großspurig zu sein. Viele 70er-Jahre-Aufnahmen vermitteln das besonders gut. Für mich ist das gewissermaßen ein Comfort-Food-Element, das die bittere Medizin versüßt. Wenn die Songs eine angenehme Grundlage haben, gibt mir das die Chance, textlich so komplex zu werden, wie ich möchte. Wenn das Drumherum gut schmeckt, fällt die bittere Medizin, die da drinsteckt, nicht so sehr auf."

Natürlich ist sich Shelley bewusst, dass ihre sanfte Verklärung der 70er auch mit ihrem Alter zusammenhängt, trotzdem ist sie überzeugt, dass es sich um eine außergewöhnliche Zeit gehandelt hat.

„Ich versuche immer noch herauszufinden, wie es sein kann, dass sich 1971 so viele Songwriter und Alben, die ich mag, mit den gleichen globalen Herausforderungen beschäftigt haben, die uns auch heute wieder beschäftigen“, sagt sie. „In Sachen sozialer Gerechtigkeit wirken die Platten von damals heute fast wie ein Spiegel: Nein, wir sind mit dem Thema noch nicht durch, das Gleiche gilt auch für Kriege oder die Erdgaskrise. Mit den alten Ideen kommen auch die alten Stilmittel wieder zum Vorschein."

Trotz der vielen Herausforderungen, mit denen wir alle uns derzeit konfrontiert sehen, hat Shelley aber auch viel Spaß am Leben. Freude findet sie derzeit nicht zuletzt im allerengsten Umfeld, wie sie uns abschließend verrät:

„So klischeehaft das auch ist: Meine kleine Tochter bringt mir als Musikerin gerade viel Freude. Sie imitiert und erforscht Geräusche und erkennt zum ersten Mal, dass Dinge Namen haben. Für mich als Texterin wie auch als Naturliebhaberin sind das ziemlich wichtige Informationen, ich kann gar nicht sagen, wie großartig das ist! Sie entscheidet unvoreingenommen, welche Geräusche ihr Spaß machen oder interessant zu hören sind, welche Musik sie dazu bringt, sich zu bewegen, welche Vögel oder Käfer oder Flugzeuge Beachtung wert sind. Als Musikerin habe ich das Gefühl, dass diese kleine Einjährige die beste Lehrerin ist, die ich je hatte."

Aktuelles Album: The Spur (No Quarter / Cargo)


Weitere Infos: joanshelley.net Foto: Mickie Winters

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