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KEVIN MORBY

Die Geister der Vergangenheit

KEVIN MORBY

´This Is A Photograph´ ist das Album, auf das Kevin Morby seit fast ein Jahrzehnt hingearbeitet hat. Mehr denn je perfektioniert der 34-jährige Tausendsassa aus Kansas City auf der beeindruckend ambitionierten Platte seine Vision der einst von Gram Parsons beschworenen Cosmic American Music, in der Americana, Rock, Soul und Gospel sich zu einem Stil vereinen, der größer ist als die Summe der einzelnen Teile. Mehr denn je macht er auf ´This Is A Photograph´ aber auch einfach Kevin-Morby-Musik, denn hier komprimiert er mit viel Köpfchen und Raffinesse all seine Ideen der letzten zehn Jahre auf einer betont intensiven, mit großer Besetzung eingespielten LP, in deren Entstehungsgeschichte die Geister der Vergangenheit und die Stadt Memphis Schlüsselrollen spielten.

Die Konzentration aufs Wesentliche kommt nicht von ungefähr. Ein Grund dafür ist, dass die Initialzündung für ´This Is A Photograph´ sehr persönlicher Natur war, was auch dazu führte, dass die Songs einen großen emotionalen Bogen schlagen und sich vornehmlich um Familie, Nostalgie und Sterblichkeit drehen. Nach einem medizinischen Notfall seines Vaters, den Morby hautnah miterlebte, suchte er Trost in alten Familienfotos, ein Schwelgen in Erinnerung, das nun auch im Titel seines neuen Albums reflektiert wird. Sie wurden für ihm zu einem „Fenster zur Vergangenheit“, wie es in einer Zeile des Titelstücks heißt.

„Ich finde, Fotos, ganz besonders alte Familienfotos, haben etwas Mysteriöses und das finde ich spannend, sie sind mysteriöse Relikte der Vergangenheit“, sagt er im Video-Interview mit der Westzeit. „Du betrachtest sie und fragst dich: ´Oh, was ist wohl an diesem Tag oder im Leben meiner Familie geschehen, als das Foto geschossen wurde?´ Zudem haben analoge Fotos, die in den 70er- und 80er-Jahren und sogar in den 90er-Jahren gemacht worden sind, einfach das gewisse Etwas. Sie sehen einfach unglaublich gut aus. Man muss sich wirklich viel Mühe geben, um heute etwas so gut aussehen zu lassen. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Bücher, Gemälde, Platten – das sind alles Dokumente der Vergangenheit. Wir dokumentieren die Gegenwart, aber Gegenwart wird im Handumdrehen zu Vergangenheit. Mir gefiel die Idee, mich mit diesen alten Familienfotos auseinanderzusetzen und dabei Musik wie eine Fotografie zu betrachten. Fotos sind einfach ohne Ende unterhaltsam. Du kannst sie dir ansehen und sagen: ´Oh, das ist nur ein altes Foto!´ Du kannst dich aber auch in dieses Bild hineinversetzen und deiner Fantasie freien Lauf lassen."

Das wohlige Gefühl der Nostalgie machte für Morby – gerade in Zeiten der Pandemie und all der politischen Irrungen und Wirrungen in den USA und anderswo – die Vergangenheit zu einem Sehnsuchtsort, einer Wohlfühlzone. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass es Morby auf seiner Sinnsuche ausgerechnet nach Memphis verschlug, die leicht verwitterte Metropole in Tennessee, die heute vor allem vom Glanz früherer Tage lebt und Heimat unzähliger musikalischer Legenden ist.

„Wegen der Pandemie bin ich nicht geflogen, also habe ich nach bedeutsamen Orten gesucht, die mit dem Auto zu erreichen sind“, erinnert er ich. „Memphis ist nur sieben oder acht Stunden von hier entfernt – ich war schon einige Male dort und habe dort auch mal ein Konzert gegeben. Die Stadt spricht mich einfach an. Ich liebe Memphis, für mich ist das einfach ein sehr beruhigender Ort. Das ist ein Ort voller Tragödien, es gibt eine Menge Geister dort und es fühlt sich an, als würde es dort spuken. Gleichzeitig vermittelt die Stadt das Gefühl, als habe sie eine coole Zukunft vor sich. Vor allem in der beängstigenden Zeit mit dem Virus dort zu sein, wirkte auf mich sehr beruhigend, weil Memphis sehr widerstandsfähig, sehr unerschrocken ist. Die Stadt hat viel durchgemacht, sie ist in gewisser Weise niedergebrannt und wieder aufgebaut worden. Es wirkt, als wäre die ganze Stadt so etwas wie ein Museum. Orte wie das Lorraine Hotel, wo Martin Luther King ermordet wurde, gibt es dort überall."

In Memphis bezog Morby im altehrwürdigen Peabody Hotel Quartier und erkundete die Stadt und ihre Dämonen von Grund auf, bis die schwermütigen Songs, die zu all dem passen, was er gesehen hatte, nur so aus ihm heraussprudelten. Er besuchte den Zoo in Memphis und machte sich auf zum Mississippi River, um Tondokumente zu sammeln, die sich teils nun auch auf ´This Is A Photograph´ wiederfinden. Beide Orte sind eng mit den letzten Tagen von Jeff Buckley verbunden, der Anfang 1997 nicht nur in Memphis war, um an seinem zweiten, nie vollendeten Studioalbum zu arbeiten, sondern auch einen Job im Schmetterlingshaus des Zoos annahm, bevor er unter mysteriösen Umständen im Mississippi ertrank. Buckleys tragisches Ende mit 30 klingt auf Morbys neuer Platte in den beiden Songs ´Disappearing´ und ´A Coat Of Butterflies´ an, und das, obwohl er eigentlich kein ausgesprochener Kenner, geschweige denn Fan von Buckleys Musik ist.

„Aus irgendeinem Grund fand ich mich in der Geschichte wieder“, sagt Morby über seine Motivation, sich der dramatischen Geschichte dennoch zu widmen. „Vielleicht auch, weil es in den meisten Geschichten des Südens um Menschen aus den Südstaaten geht. Jeff Buckley dagegen stammt aus Kalifornien, und das sprach mich an. Wir waren beide Künstler, die von woanders herkamen, aber von Memphis fasziniert waren. Ich denke, Memphis zog uns beide aus ähnlichen Gründen an, das war einfach eine seltsame Parallele. Ich will nicht so tun, als sei ich das gleiche Kaliber wie Jeff Buckley, aber ich denke, er kam nach Memphis, weil er auf der Suche nach etwas echt Amerikanischem war, und ich denke, bei mir war das ähnlich. Seine Geschichte hat mich einfach umgehauen. Da ist jemand, der wie ich in die Stadt gekommen war, weil er den Dingen auf den Grund gehen wollte, und die Stadt hat ihn umgebracht, sie hat ihn sich einfach genommen. Das fand ich faszinierend, seine ganze Lebensgeschichte war sehr inspirierend für mich, und ich habe oft seine Musik gehört, während ich dort war."

Buckley ist allerdings nicht der einzige Musiker, der Spuren auf ´This Is A Photograph´ hinterließ. Ein anderer war Jay Reatard, ein weiterer Musiker, der ein frühes Ende in Memphis gefunden hat und nun für die Nummer ´Rock Bottom´ klanglich Pate stand.

„Ich war ein Riesenfan, als er noch lebte, und auch nach seinem Tod hörte ich seine Platten hin und wieder“, verrät Morby. „In Memphis fühlte ich mich dann aber besonders an ihn erinnert und hörte die alten Reatards-Platten wirklich oft. Diese Alben habe ich dann als klangliche Referenz für den Song benutzt, denn ich wollte etwas Ähnliches machen. Das Lied handelt im Wesentlichen von ihm, spricht aber im weiteren Sinn von Songwritern, die aus dem Nichts kommen, aus ärmlichen Verhältnissen stammen und sich ihren Weg an die Spitze bahnen, dann aber jung verglühen. Darum ging es, und wir haben versucht, die Nummer schmutzig klingen zu lassen, so, als sei sie billig aufgenommen worden."

Die Hommagen an die verstorbenen Musiker erfüllen so eine Doppelrolle: Sie dokumentieren Morbys Zeit in Tennessee, halten gleichzeitig aber auch die Erinnerung an die alten Helden wach. Morbys Hörer können so auf ihre ganz eigene Entdeckungsreise gehen.

Bevor Morby sich nach Memphis aufmachte, waren es die unvergleichlichen Big Star, die von allen Künstlern der Stadt bei ihm den tiefsten Eindruck hinterlassen hatten. Tatsächlich hat er auch Chris Bell, dem ebenfalls tragisch jung in Memphis gestorbenen Mitinitiator der legendären Power-Pop-Heroen, einen Song gewidmet, der es allerdings nicht mit auf das Album geschafft hat. Dagegen spielten die vielleicht berühmtesten musikalischen Söhne der Stadt, Elvis Presley und das Million Dollar Quartett mit Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins, die einst im Sun Studio den Grundstein für ihren Siegeszug in der Rock´n´Roll-Welt gelegt hatten, keine bedeutete Rolle auf Morbys Spurensuche.

„Vieles davon hat mich vorher einfach nicht sonderlich interessiert“, gibt er zu. „Es ist nur ein Teil des amerikanischen Mythos – all die Geschichten von Elvis und Bluesmusikern, die von dort kamen. Als ich in Memphis war, waren mir all diese Geschichten plötzlich viel näher und ich war völlig fasziniert. Ich habe den Mythos und die Ideologie um Elvis immer geliebt, aber es ist fast so, als müsste man in der Stadt sein, um all diese Geschichten zu verstehen. Ich liebe aber auch die Storys um den Highway 61, wie Ike und Tina Turner von Clarksdale, Mississippi, bis nach Memphis gefahren sind, ihnen der Verstärker auf den Highway gefallen ist, sie Zeitungspapier reingestopft haben, um den gerissenen Lautsprecher zu reparieren, und das letztlich zu den ersten verzerrten Gitarrensounds geführt hat. Solche Geschichten haben mich einfach umgehauen!"

Allerding hat Memphis nicht nur inhaltlich tiefe Spuren auf ´This Is A Photograph´ hinterlassen. Auch klanglich hat Morby versucht, den Geist des Ortes, die zähe Aura der Stadt mit all ihren Ecken und Kanten, einzufangen. Vieles auf der neuen LP klingt deshalb trotz bemerkenswert üppiger Arrangements gewollt rau und unpoliert. Nachdem er schon in der Vergangenheit gleich mehrfach Platten gemacht hatte, die eng mit einem Ort verknüpft waren, war es ihm dieses Mal ein besonderes Bedürfnis, das Memphis-Gefühl auch bei den Aufnahmen einzufangen.

„Wir haben den Großteil der Platte in Sam Cohens Studio in Upstate New York aufgenommen und hätten sie auch dort fertigstellen können, aber ich habe darauf bestanden, dass wir zurück nach Memphis gehen, um sie dort zu vollenden“, erzählt Morby. „Ich wollte, dass die Stadt dem Album ihren Stempel aufdrücken kann – und das ist auch passiert."

Schon zuvor hatten viele alte und neue „famous friends“ – darunter Makaya McCraven, Cassandra Jenkins, Tim Heidecker, Alia Shawkat, Nick Kinsey und Erin Rae, die Duettpartnerin bei ´Bittersweet, TN´ – an den Sessions mitgewirkt, doch zurück in der Stadt, wo alles begann, baten Morby und Cohen auch noch die Absolventen der Stax Academy of Music, mit der das Erbe des berühmten Soul-Labels fortgeführt wird, den Background-Gesang für das Titelstück des Albums zu übernehmen, und Jerry Phillips, Sohn des Sun-Studio-Gründers Sam Phillips und heute Betreiber des Sam Phillips Recording Studio, wo die Aufnahmen stattfanden, fügte einen kurzen Spoken-Word-Part hinzu.

„Ich denke, die ganze Attitüde hat in den Aufnahmen Spuren hinterlassen“, ist Morby sicher. „Außerdem war es Juli und superheiß, und ich möchte glauben, dass sich die Luftfeuchtigkeit auf das Album niedergeschlagen hat. Nach Memphis zurückzukehren, war ein wichtiger Teil des gesamten Prozesses!“

Entstanden ist dabei ein Album mit betont feierlicher Grundstimmung, das klanglich so abwechslungsreich ist wie keiner der Vorgänger und das vielerorts bereits als Morbys Meisterwerk gepriesen wurde. Tatschlich ist die LP auch für den Musiker selbst etwas ganz Besonderes, ein Album, das heraussticht. Denn während er in der Vergangenheit seiner Zeit immer ein Stück voraus und zumindest in Gedanken schon bei der nächsten Platte war, konzentrierte er sich dieses Mal allein auf ´This Is A Photograph´.

„Ich habe dieses Mal sichergestellt, dass ich nebenher an nichts anderem arbeite“, verrät er abschließend. „Zuvor war das stets anders. Als ´Harlem River´ erschien, hatte ich bereits ´Still Life´, als Singing Saw´ herauskam, hatte ich schon ´City Music´, als ´ Oh My God´ fertig wurde, gab es bereits ´Sundowner´. Dieses Mal habe ich mir gesagt: ´Ich will nur diese eine Platte machen.´ Ich wollte mich darauf konzentrieren, weil ich denke, dass sie es verdient hat."

Aktuelles Album: This Is A Photograph (Dead Oceans / Cargo)


Weitere Infos: › www.kevinmorby.com Foto: Chantal Anderson

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