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CALEXICO

Musik als Brücke

CALEXICO

In der ersten Phase der Pandemie nutzten Calexico die Lockdown-Phase um zum Jahresende 2020 das Album „Seasonal Shift“ einzuspielen – eine Sammlung von neuen Tracks und Cover-Versionen, die sich mit dem Geist der Weihnachtszeit beschäftigten. Das war nach dem 2019er Album „Years To Burn“, das Calexico zusammen mit der befreundeten Band Iron & Wine einspielten, bereits das zweite Werk, das aus dem üblichen Calexico-Oeuvre konzeptionell herausragte. So gesehen, ist das nun vorliegende, zweite Pandemie-Album „El Mirador“ - was so viel wie „der Ausguck“ bedeutet - nun wieder ein vergleichsweise „normales“ Album der Band aus Tucson, Arizona.

Das auch in dem Sinne, dass sich Joey Burns, John Convertino und Sergio Mendoza – seit einiger Zeit das Kerntrio des Calexico-Imperiums – in Sergios neuem Studio in Tucson versammeln konnten (obwohl Joey inzwischen in Boyse, Idaho und John in El Paso, Texas leben) und dort ohne Druck und mit viel Zeit in lockerer Atmosphäre gemeinsam an den neuen Songs arbeiteten. Vermutlich auch aus diesem Grund bietet „El Mirador“ somit eine Art musikalischen Zirkelschlusses, indem Calexico zu ihren Wurzeln zurückkehrten und mit Cumbia, Tex Mex, Psycho-Pop und Wüstenrock wieder zu ihrem klassischen Kerngeschäft finden. Und das übrigens auf eine angenehm lockere, ungezwungene und positiv groovende Art und Weise.

Ist das vielleicht auch der Grund dafür, dass die neuen Stücke eine leicht eskapistische Note haben?

„Na ja – ich bin ja nicht an wörtlich zu nehmenden, politischen Songs interessiert“, räumt Joey ein, „das war noch nie so. 'All Systems Red' war vielleicht der politischste Song, den ich je geschrieben habe. Es ist so, dass der Track 'Cumbia Peninsula' auf dem neuen Album ein tieferes Thema berührt – die soziale, politische und ökologische Situation, der wir uns alle stellen müssen. Worum es aber im Grunde genommen geht, sind Menschen, die Fragen stellen. Als ein Musiker und Songwriter will ich aber nicht offensichtlich und wörtlich sein. Was ich möchte, ist Gefühle hervorrufen und Gedanken anregen. Ich möchte, dass Menschen sich einer anderen Perspektive gegenüber öffnen und der Musik gegenüber aufgeschlossen sind. Das ist mein Ziel, dass ich für mich selbst, meine Mitmusiker, meine Familie und Freunde, meine Crew und meine Fans hier und auf der ganzen Welt verfolge. Für mich sind die Songs symbolische Gesten. Mit der Instrumentierung, und der Kombination von Kulturen und Stilen und Sprachen können wir zeigen, dass wir alle zusammenarbeiten können – denn das, was in der Welt gerade passiert, ist super-wichtig. Wenn wir über die Musik zusammenfinden können, können wir eine von vielen Brücken bauen."

Auf „El Mirador“ befinden sich viele Tracks, die auf dem Cumbia-Stil basieren. Cumbia ist ja wohl die Art von lebhafter Tanzmusik, die international jenseits möglicher komödiantischer Effekte mit am Besten verstanden werden kann.

„Ja, das stimmt wohl“, zögert Joey, „aber jede Art von Musik – seien es die von Beethoven oder Bob Dylan - kann komische Momente enthalten. Es hängt aber vom Zuhörer und dem kulturellen Kontext ab, wie man das empfindet. Zum Beispiel enthält mexikanische Banda-Musik auch einen komischen Unterton – wird aber sehr ernst genommen. Wenn man diese Art von Musik in Sina Loha, Mexico erlebt – und sie für Deine deutschen Ohren oder unsere amerikanischen Ohren komisch klingen könnte – dann wirst Du feststellen, dass in Mexico Musik sehr ernst genommen wird. Die Worte haben einen bestimmten Kontext und der Ton ist ganz anders. Das ist es ja, was ich an der Musik so mag – sei es Folk, oder Punk oder Klassik. Ennio Morricone hat gewiss komische Untertöne, aber der Kontrast zu dem Setting in dem diese Musik dann verwendet wird, versetzt sie auf eine ganz andere Ebene. Diese Kontrast ist eine schöne Sache, die ich gerne bewusst als Medium einsetze. Zum Beispiel ist der Text von 'Cumbia Peninsula' sehr ernsthaft, während die Musik einen eher festlichen Charakter hat. Ich mag die Idee dieses Kontrastes."

'Kontrast' ist ein gutes Stichwort – insofern „El Mirador“ vielleicht mit Kontrasten funktioniert – gleichzeitig aber auch sehr ausgewogen bzw. ausbalanciert klingt.

„Danke – das Wort 'Gleichgewicht' mag ich sogar auf Deutsch“, freut sich Joey, „und das ist doch eigentlich genau das, wonach wir täglich suchen, oder? Wie viel Kaffee trinke ich heute morgen? Wie viel Licht lasse ich ins Zimmer? Wieviel Nachrichten brauche ich und wieviele vertrage ich, damit ich nicht wahnsinnig werde? Und das gilt auch für die Musik. Ich habe mich dieses Mal entschlossen, nicht so viele Balladen ins Programm zu nehmen. Ich habe aber darauf geachtet, dass Songs wie 'Constellation' oder 'Turquoise' genug Raum bieten, um druckvollere, lebhafte Titel wie 'Rancho Azul' auszugleichen. Was ich wollte, war unsere Live-Energie ausbalanciert ins Studio zu bringen. Das brauchte eine Menge Arbeit und ich musste Sergio und John ermutigen, nicht in unseren Bemühungen nachzulassen. Dabei war es von Vorteil, dass wir ungestört von außen in Sergio's Studio arbeiten konnten. Wir haben dann Johns original italienische Espresso-Maschine angeworfen und los ging's. Aber wir mussten dabei ja keine wertvolle Studiozeit oder Geld verschwenden. Wir konnten also auch mal Pause machen. Wir haben uns gesagt: Lass uns unseren Live-Shows Tribut zollen. Wir lieben diese ja und wir können es nicht erwarten, bis es wieder los geht. Lass uns doch mal versuchen, das auf Konserve zu bannen. Ich bin froh, dass Du meinst, dass da ein gute Balance gelungen ist. Gerade heute, wo die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer zu werden scheint und Alben immer kürzer werden, und es überhaupt nicht mehr um das Album geht, sondern ein, zwei Songs, ist uns das sehr wichtig. Wir stecken viel Zeit, Energie und Arbeit da rein, um sicherzustellen, dass wir ein ganzes, rundes Album machen, das auch als solches Sinn macht."

Das ist zweifelsohne gelungen, denn wie eine unzusammenhängende Songsammlung klingt „El Mirador“ ja nun wirklich nicht.

„Wir haben das erreicht, indem wir gar nicht alles, was wir aufgenommen haben, auf die Scheibe gebracht haben“, verrät Joey, „wir hatten ca. 30 Songs angesammelt – einige davon fertig, andere nur als Sketche bis zum Grundstadium gediehen. Wenn etwas nicht passte, haben wir es weggelassen. Das gehört auch zu der Balance, den Aufnahmeprozess betreffend."

Bedeutet das eigentlich auch, dass Musik ein gewisses Eigenleben hat?

„Ja, definitiv“, pflichtet Joey bei, „darüber denke ich oft nach. Wie Du vermutlich auch, verbringe ich mehr und mehr Zeit Online. Und das ist immer weniger Zeit, zusätzliche Infos oder Liner-Notes zu lesen, weil alles irgendwo versteckt ist. Aber es gibt ja immer noch das Radio oder Playlists oder Kassetten-Mix-Tapes, wo man Musik finden oder entdecken kann. Mir ist das aber nicht wichtig, etwas Neues zu machen – ich will einfach gute Musik machen. Was die Relevanz betrifft: Der Titel des Albums heißt übersetzt ja 'Der Ausguck'. Der Grund, dass wir so viel Zeit online verbringen ist ja die, dass wir nach etwas suchen und aus dem Fenster schauen möchten. Manche Leute möchten sich dabei aber selbst sehen – wie eine Spiegelung im Wasser. Der Kontrast zwischen dem Herausschauen und dem nach innen Blicken ist heutzutage eine interessante Sache, auf die ich hinweisen wollte: Was sehen wir? Wen sehen wir? Wie oft schauen wir nach? Und was bedeutet uns dieses Verlangen, hinsehen zu wollen für uns? Gibt es uns Hoffnung? Ist es Teil dieser Abwärtsspirale, die zu Streit, Verweigerung, Konfrontation und letztlich Krieg und Tod führt? Oder können wir alle zusammenkommen? Ich denke, dass Musik hier die Brücke dorthin ist - und dafür will ich kämpfen. Ich will aber auf eine Weise kämpfen, die die Menschen bewegt. Rhythmus ist in dieser Hinsicht die kraftvollste Sache. Aber auch die Tonlage ist kraftvoll. Die Kraft einer Ballade ist eine wirklich schöne Sache, die auch tief berührt. Man darf sich da auch nicht schämen. Als ich neulich beim Frühstück Neil Young's 'Comes A Time' im Radio gehört habe, habe ich mich total gehen lassen und bin ausgeflippt. Ich bin mir sicher, dass mich meine Kids als Clown abgeschrieben haben – aber das ist mir dann egal."

Musik ist dann ja sicherlich auch eine Art Lifestyle für Joey, oder?

„Genau – ich bin sozusagen bin vom Musikvirus angesteckt“, gesteht Joey, „für mich ist Musik auch eine Art Medizin. Oder ein Fenster. Oder eine Perspektive, die mich packt. Musik ist teilweise auch ein wenig Eskapismus – aber auch sehr in der Realität verwurzelt und ein Teil meiner selbst."

http://www.casadecalexico.com/

Foto: Holly Andres

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