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TOCOTRONIC

„Man darf nicht zu arg versuchen zu verstehen“

TOCOTRONIC

Fast auf den Tag genau zehn Jahre ist es her, dass Tocotronic zum ersten Mal auf einem Titelbild auftauchten – natürlich auf dem der Westzeit. Da passt es ausgezeichnet, dass die Band sich mit ihrem neuen Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ auf ihre Anfänge besinnt. Nachdem auf der allerersten Single „Meine Freundin und ihr Freund“ legendärerweise nicht nur stand „Aufgenommen in Zweispurtechnik am 22.Februar 1994“, sondern auch der Zusatz „19-21.00 h“ nicht fehlen durfte, hatten Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller in der Folgezeit zuerst Wochen, dann Monate und zum Schluss sogar Jahre gebraucht, um neue Platten einzuspielen. Die Produktionszeit für ihr siebtes Studioalbum können Tocotronic wieder in Tagen angeben. Doch obwohl sie nach nur neun Tagen Aufnahmezeit in Berlin-Kreuzberg ein weiteres kleines, bisweilen hypnotisches Meisterwerk geschaffen haben, ist ihnen auch weiterhin stets präsent, dass Selbstbewusstsein der Tod jeder Kunst ist. Deshalb stellen Tocotronic auch weiterhin all ihre Entscheidungen in Frage. Fast könnte man sagen: Im Zweifel - Erfolg!

Den Kurzaufenthalt im Studio verdanken Tocotronic nicht zuletzt auch ihrem Produzenten Moses Schneider, der für sein rasantes Arbeitstempo bekannt ist. „Das sollten eigentlich nur die Demoaufnahmen sein, aber dann waren wir damit so zufrieden, dass wir uns dachten: ‚Dass muss man jetzt so lassen’“, erinnert sich Dirk bei unserem Gespräch in Köln. Wir wussten, dass es eine Platte ohne viel Synthesizer, Plug-Ins und anderen Computerkram sein sollte. Wir wollten das schon ein bisschen Dogma-mäßig angehen.“ Geholfen hat dabei auch die Entscheidung, die Grenzen der Triobesetzung zu sprengen. „Die entscheidende Veränderung war, dass wir für diese Platte zu viert waren“, ist sich Dirk sicher. „Das hatte natürlich zur Folge, dass die Stücke von vorne herein ganz anders arrangiert werden konnten“. Dennoch kam es für viele überraschend, dass der von den letzten Tocotronic-Liveauftritten und aus dem gleichnamigen Tomte-Song einschlägig bekannte Rick McPhail nun als festes viertes Bandmitglied an Bord ist. „Das hat sich ganz natürlich ergeben. Wir hatten bei den Liveauftritten nach der letzten Platte gemerkt, dass es sehr viel bringt, wenn jemand dazukommt, der eine ganz andere Art hat, Gitarre zu spielen, und so das Zusammenspiel bereichert. Für uns war es deshalb logisch, zusammen mit Rick weiterzumachen“, erläutert Arne, und Dirk stellt klar: „Das war keine strategische Entscheidung. Wir haben uns nicht zusammengesetzt und gesagt: ‚Oh, nun gibt es uns schon zehn Jahre, jetzt brauchen wir mal eine Neuerung!’ Rick gehört einfach zur Familie. Das ist so ein bisschen Grateful-Dead-mäßig.“
Deshalb haben sich Tocotronic nicht den perfektesten Musiker ausgesucht, den man für Geld kaufen kann, sondern jemanden, der vor allem auch menschlich gut zur Band passt. „Wird sind Freunde – das ist auch die Basis, auf der wir die Band immer betrieben haben“, glaubt Arne, und Dirk ergänzt: „Es darf nie Arbeit werden. Außer vielleicht bei Interviews, die man letzten Endes aber auch gern macht. Man darf sich nicht sagen: ‚Ich bin in der Band, das ist mein Beruf!’“ Mit einem Ausspruch wie dem von Peter Buck, dass nicht zuletzt die vielen Angestellten seiner Band R.E.M. ein Ansporn für ihn wären, sich nicht aus dem Musikbusiness zurückzuziehen, können sich Tocotronic folglich überhaupt nicht identifizieren? „Solche Gedanken können einem ja durchaus schon mal durch den Kopf gehen“, gesteht Dirk lachend. „Nur leider haben wir nicht so viele Angestellte!“

Auch wenn im Vorfeld der neuen Platte Schlagworte wie „Rockplatte“ und „Zurück zu den Anfängen“ durch die Medien geisterten – heute wissen Tocotronic, dass digital nicht immer besser ist. Zwar scheppert hier nichts wie in den Anfangstagen, doch nach dem mitunter etwas sterilen Sound des Vorgängers „Tocotronic“ klingen die Songs wieder angenehm naturbelassen, ohne deshalb weniger durchdacht zu sein. Und wenn Tocotronic heute kommen, um sich zu beschweren, dann tun sie das ohne den jugendlichen Leichtsinn ihrer Frühwerke. Doch auch ohne zum plakativen Sloganeering zurückzukehren, beziehen sie textlich (wieder) deutlicher Stellung, und Dirk hat seine Texte noch nie akzentuierter vorgetragen. Trotzdem betont er, dabei keine künstlerischen Intentionen zu haben. „Ich glaube, es ist total falsch, wenn man hingeht und sagt: ‚Ich habe etwas Bestimmtes im Kopf, und das soll aufs Papier übersetzt werden. Ich glaube, dass man sich von der Sprache leiten lassen muss und da selber in eine Art Delirium kommen muss. Das ist ein Spiel, das ist ein Prozess. Wenn der Stein erst einmal ins Rollen gekommen ist, kann man das gar nicht mehr kontrollieren - und man will es auch nicht.“
In den neuen Songs äußert sich das in einer deutlichen, leidenschaftlichen Sprache, die bewusst weniger jargonhaft sein soll. Aber darf man deshalb nach griffigen Botschaften suchen, um sie mit Edding an die Wände zu hauen? „Man darf nicht zu arg versuchen zu verstehen. Man muss sich eher von Gefühlen leiten lassen“, erläutert Dirk. Von den Klischeevorstellungen, dass Texter ihre Werke besonders gut in sehr euphorischen oder depressiven Phasen schreiben, hält er nichts. „Die Texte sind ja mit Phantasie geschrieben, das wäre ja sonst so wie beim Method Acting einiger Schauspieler. Man muss ja in der Lage sein, einen Soldaten darzustellen, ohne dass man vorher drei Jahre im Krieg war. Was wäre sonst der Sinn eines Schauspielers? Genauso kann man sich auch in die Lage eines Verrückten oder Überglücklichen oder Verliebten hineinversetzen, ohne dass man es selbst ist.“ Wie heißt es schließlich so treffend? Pure Vernunft darf niemals siegen!
Weitere Infos: › www.tocotronic.de Foto: Lado

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