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BOSSE

Vom Rohdiamanten zum Brillanten

BOSSE

Lang, lang ist es her, da war Axel Bosse Frontmann von Hyperchild. Der große Knaller damals war die 2000 veröffentlichte rockig-rauhe Coverversion des Hits „Wonderful Life“, ursprünglich von Black. Lange dauert das wundervolle Leben mit Hyperchild dann doch nicht. Und, als hätten sie es gewusst, hat die Band auf die gleiche Maxi auch noch das Lied „Goodbye“ gepackt. Es dauerte ein Weilchen und dann hatte Axel Bosse als Bosse seine eigene Band am Start. Eine, die eine höchst interessante Besetzung aufweist.

Axel Bosse hat sich der Wuppertal-Connection bedient. Am Bass steht Ex-Heyday-Mann Theofilos Fotiades, mit Thorsten Sala an der Gitarre steht ein weiteres Ex-Heyday- und jetziges Uncle Ho-Mitglied auf der Bühne, Uncle Ho-Mitstreiter Björn Krüger bedient das Schlagzeug. Mit dieser Truppe spielt Bosse 2005 „Kamikazeherz“ und 2006 „Guten Morgen Spinner“ ein. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hat die komplette Mannschaft, die Bosse unter Vertrag nahm die Plattenfirma verlassen. Entsprechend groß ist bei den anderen die Freude an den beiden Kuckuckseiern im Nest. Nach einer weitern Pause wechselt Bosse die Plattenfirma, tritt mit der Veröffentlichung „Taxi“ 2009 erneut an und haut mit „3 Millionen“ und „Sommer lang“ veritable Hits raus.



Feinschliff

Wer so ein Stehaufmännchen ist, wie Bosse eins ist, de bleibt kreativ nicht einfach stehen.

„Es gibt in meinem Künstlerkosmos nur einen einzigen Masterplan“, betont Axel Bosse, „den, mich nie zu wiederholen. Ich schaue immer nur nach vorn und nie zurück.“

Das stimmt für das aktuelle Album „Wartesaal“ nicht ganz. Das muss Axel Bosse zugeben: „Wiederholung wäre sicherlich eine Überzeichnung. Ich habe Ideen erneut aufgegriffen, so würde ich das formulieren, und diese dann fortgeführt. Vielleicht auch deshalb, weil ich wieder mit Jochen Naaf gearbeitet habe.“

Bosse Leib- und Magenproduzent hatte dazu erneut in sein Kölner Wohnzimmerstudio geladen. Verglichen mit der letzten Platte, haben die zwei bei „Wartesaal“ ordentlich Feinschliff vorgenommen. Wobei Feinschliff nicht mit polieren zu verwechseln ist. Denn auch wenn das Schleifpapier feine Körnung aufweist, bleiben Rillen zurück. Rillen zum Reiben. Zum Einhaken. Schließlich will das Ohr des Zuhörers ja nicht eingelullt werden, es will beschäftigt werden. Und Bosse beschäftigt es in vorzüglicher Weise. Schicke Lieder. Eingängig, aber nicht platt. Popig, aber nicht klebrig süß. Bosse hat für seine Klangmixtur exakt die richtige Dosierung gefunden.



Tanzbar

Bosse und Joachim Naaf haben viel mehr Zeit als sonst im Studio verbracht.

„Wir haben vor Ideen nur so gesprüht“, lacht Axel Bosse, „aber auch das tun wir immer. So haben wir noch mehr Zeit mit der Musik verbracht. Aber ein Anliegen war von Beginn an da: tanzbare Musik machen.“

Auch dieses Anliegen wurde umgesetzt. Die neuen Bosse-Lieder atmen dieses Four-on-the-floor-Gefühl, diesen Rhythmus der Basstrommel, die permanent den Beat drischt. Und doch ist das Durchhaltevermögen des Beat zwar durchgängig, aber Bosse durchbricht es immer wieder.

„Ja, da mussten auch noch ein paar andere elektronische Momente Elemente hin“, ereifert sich Axel Bosse geradezu, „welche, die wir noch nicht hatten. Aber auch das war noch nicht genug. Ich wollte da ein Horn, dort ein Trompete. Ein verzerrtes Cello. Streicher. Echte gezupfte und gestrichene Instrumente sollten dem elektrischen Bass die Tanzschuhe anziehen.“

Und was für Schuhe das sind. Es sind solche, die nur als völlig durchtanzte Galoschen enden können, von denen nur Lederfetzen übrig bleiben. Aber getanzt wird nicht in den schwülen, dunkeln Schuppen in den Seitenstrassen. Es wird gepflegt getanzt, in der Tanzdiele und die Bar in Sichtweite.

„Tanzen ist doch geil“, nimmt er den faden wieder auf, „was immer gestört hat, ist, dass es so viel Tanzlieder gibt, bei denen man absteppen kann, das Stück aber nichts zu sagen hat. Ich wollte der Tanzmeute etwas geben, was Aussage hat und zusätzlich Bilder erzeugt und dabei sollst du dennoch gepflegt abhotten können.“



Skizzenbuch

Bosse ist ein wandelndes Skizzenbuch. Sein Kopf ist ein Recorder, der permanent mitschneidet. Melodielinie für Melodielinie. Textbaustein für Textbaustein.

„Von den neuen Stücken sind gerade mal drei in einem Rutsch durchgeschrieben worden“, erinnert sich Axel Bosse, „das sind ‚Wartesaal’, ‚Nach Haus’ und ‚Nächster Sommer.’ Ansonsten mussten da meine Skizzenbücher ran. Neben meinem Kopf, mein Handy und mein völlig unaufgeräumter Rechner. Der darauf bezogene Arbeitsprozess hat etwas von einem gepflegten Chaos. Ich krame erst in der einen Skizze und ergänze sie, dann in der anderen und füge was hinzu und dann wieder in der ersten, um wieder was wegzunehmen.“

Doch was da am Ende dieses Weges steht, ist was ganz Großes. Bosse schludert nicht, wirft nicht irgendetwas in den Ring. Er gibt bewusst Form und Inhalt. Jedes Wort ist mit Bedacht gewählt, die Instrumentierung geschickt gesetzt und die Arrangements musikalisch den Themen der Stücke anpasst. Vergleichbar mit edlem Champagner. Auch der braucht Zeit: eine zweite Gärung, ein anschließendes Rütteln und dann noch ein Abschlämmen, bevor in die endgültige Flasche kommt. Dann stimmen Geschmack und Reife. Wie bei Bosses Liedern.



Durchdacht

Etwas, was Bosse auszeichnet, ist sein stets durchdachter, aber niemals verkopfter Ansatz. Er denkt nach. Es wird aber nichts zu Tode gedacht. Nichts überfrachtet.

„Das ist auch ein Verdienst von Jochen Naaf“, bekennt Axel Bosse, „ich habe immer viel zu viel Ideen. Ich mache die Stücke viel zu voll. Er nimmt alles auf. Am Ende sitzen wir meist gemeinsam da und nehmen wieder ein paar Spuren raus oder machen hier mal lauter und dort mal leiser. Diesmal haben wir auch Spuren ausgetauscht. Beispielsweise Gitarren weggelassen und dafür einen zweiten angezerrten Bass hinzugefügt.“

Dabei ist blindes Vertrauen nur ein Faktor in der Zusammenarbeit, Gelassenheit ein weiterer.

„Beides hast du nicht einfach so“, sagt Axel Bosse, „das ich das heute habe, hat auch etwas mit dem ganzen Gehassel um Hyperchild zu tun. Nachdem ich blutjung, mit gerade mal 17 Jahren durch dieses Feuer gegangen bin, lernte ich zu wissen, was ich nicht will und von da an sukzessive immer mehr, was ich will. Ich bin so darauf gekommen, dass man nicht loslassen darf, wenn man etwas wirklich will. Und ich wollte gute und ehrliche Texte schreiben und diese dann vertonen. Nur so konnte ich meinen Traum weiterleben. Solches Wachsen braucht aber auch Zeit. Das weiß ich zumindest heute.“



Zweischneidig

Bosse hat den großen Vorteil, dass zu dem Zeitpunkt, als er die Szene betrat, der Boden für deutsche Texte schon bestreitet war.

„Da haben Die Fantastischen Vier einfach Pionierarbeit geleistet, die mir vieles leichter gemacht hat“, gibt Bosse unumwunden zu, „nur deshalb funktionierten meine Geschichten von Sehnsüchten und Verlierern, dem kleinen Glück zwischen Gartenzwergen und dem großen Gefühl des Aufbruchs.“

Deshalb konnte er seine zweischneidigen Texte zum Erfolg führen. Zweischneidig deshalb, weil es viele gibt, die gleich beim ersten Zuhören zustimmend mit dem Kopf nicken. Und dann andere, die sich zunächst ertappt fühlen. So, als wären sie bei etwas Peinlichem erwischt worden. Oder als müssten sie das, was sie gerade im Spiegel sehen, erst verdauen. Insgeheim haben sie den Texten von Bosse längst zugestimmt, weil es auch bei ihnen so ist, wie er es besingt. Auch so werden Fans geboren.

Bosses Platten werden immer dann gebraucht, wenn die Seele in Schieflage gerät und der Mensch nur noch funktioniert wie eine geistlose Maschine. Bosse treibt dann mit seinen Liedern den drohenden Maschinenbeelzebub aus, bringt das Gefühl der Euphorie zurück und die dabei ausgeschütteten Endorphine haben den abhanden gekommenen Sinn im Gepäck.

Aktuelles Album: Wartesaal (Vertigo/Universal Music)



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